Retrowelle
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Der Ausdruck Retro-Welle (v. lat. retro rückwärts) bezeichnet ein kulturelles Phänomen der Neuzeit, bei dem kulturelle Erinnerungsstücke zurückliegender Jahrzehnte auf unterschiedliche Weise, vom Alltagsgegenstand bis zum Musikstück, wieder aufgenommen und neu verarbeitet werden.
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[Bearbeiten] Retro als Trend
Oberflächlich betrachtet zeigt sich das Phänomen „Retro“ in der immer rascheren Reanimation vergangener Jahrzehnte. So kehrten die 1960er, 1970er und 1980er Jahre in den 1990ern ein ums andere Mal in großen Revivals mit Kordsamt, Schlaghosen und Gitarrenrock wieder. Dass die Kinder der 70er, damals von der Wirtschaft zum ersten Mal als kaufkräftige Zielgruppe erkannt, Mitte der 90er, also in der Phase ihres Erwachsenwerdens die Produkte ihrer Jugend, Spielzeug, Lebensmittel und Fernsehserien (Wickie, Fanta-JoJo, Playmobil, Lego, Tom Sawyer, Zauberwürfel, Barbapapa, TriTop, Brauner Bär, Slime) wiederentdeckten, kann als Unterphänomen eingeschätzt werden. Belletristischen Niederschlag fand dies in Florian Illies' Buch Generation Golf. In Wien wurden 1999 zahlreiche Exponate unter dem Ausstellungstitel „Wickie, Slime & Paiper“ zusammengetragen.
[Bearbeiten] Retro und Moderne
Tatsächlich jedoch geht es um mehr. Das Phänomen „Retro“ ist ohne den engen Zusammenhang zur Moderne, die sich die „Jagd nach dem Neuen“, die ständige Innovation auf die Fahnen geschrieben hat, nicht zu verstehen. So gesehen ist „Retro“ als Gegenpol zum (hoch-)kulturellen Haupttrend zu verorten. Wurde dieser in Frage gestellt, wie in der Pop-Art, waren stets auch „Retro“-Tendenzen zu bemerken. In einer Welt, die sich rasant verändert, immer weniger Fixpunkte bietet und in der alles alte, liebgewonnene vom ·Verschwinden bedroht ist, scheinen „Retro“-Trends eine logische Folge, auf die wiederum folgerichtig der Vorwurf folgen muss, lediglich die Sehnsucht nach heimeliger Geborgenheit zu bedienen. Ein Vorwurf, der in einem Deutschland, dessen Moderne sich stets als radikalen Bruch mit der Geschichte definiert hat, besonders schnell formuliert wird.
Seit den frühen Siebzigern, als unübersehbar wurde, dass sich die Moderne in einer schweren Krise befand, gab es selbst innerhalb der Reihen der „Fortschrittsgläubigen“ erste „Retro“-Bewegungen. Die „New York Five“, zu denen Richard Meier, Michael Graves und Peter Eisenman gehörten, setzten sich zum Ziel den Weg der Moderne bis zu Le Corbusier (1887−1965) zurückzugehen, weswegen sie auch die „Whities“ genannt wurden. Ihr Gegenspieler Robert Venturi dagegen gilt als Erfinder der Postmoderne, der ersten wirklichen „Retro-Bewegung“, zu deren Protagonisten außerdem Philip Johnson, Moore, Ruble, Yudell, sowie James Stirling gehören. Selbst ein scheinbar modernistisches Gebäude wie das von 1975 bis 1979 erbaute ICC in West-Berlin ist mit seinen Bezügen zum Science-Fiction-Film und seiner Gegenständlichkeit eher einer Art Retro-Futurismus zuzurechnen.
Das Stärker-Werden von Retro-Trends seit den frühen 70ern ist auch verbunden mit der Kapitalismus-, Konsum- und Kulturkritik der 68er-Generation, dem wachsenden ökologischen Bewusstsein und dem Brüchig-Werden des Fortschrittsglauben der Wirtschaftswunderjahre (Ölkrise). Das alles, sowie der ökologische Gedanke des Recyclings unterstützt ideologisch Phänomene wie die Verbreitung von Second-Hand-Läden oder Trödelmärkten, wobei diese Tendenz gesellschaftspolitisch durchaus als progressiv betrachtet wurde, während die Konservativen Kreise viel länger am Fortschrittsdenken festhielten.
[Bearbeiten] Retro und Historismus
Ein anderer Ansatz ist es, „Retro“ nicht als Antwort auf die Moderne zu begreifen, sondern genau umgekehrt, eine paradoxe Idee, die sich jedoch aufdrängt, wenn man die Postmoderne mit dem Historismus vergleicht. Hier wie dort findet sich die berühmte „anything goes“-Haltung, die Gleichzeitigkeit verschiedenster Stile, die Wiederaufbereitung unterschiedlicher Epochen und der Verlust von Maß, Kontrolle und Maßstab. In dieser Hinsicht liegt es nahe, den Historismus als ersten „Retro“-Trend zu bezeichnen. Wenn sich nun die Moderne lediglich zwischen zwei „Retro“-Trends geschoben hat, auf den einen als Antwort funktioniert, vom anderen abgelöst wird, stellt sich die Frage, ob die Moderne die wahre Natur unserer modernen Zeit ist, oder ob nicht doch Historismus und „Retro“-Trend viel mehr sind, als temporär (und intellektuell) begrenzte Phasen und Zeiterscheinungen.
[Bearbeiten] Frühere Retrotrends
Der Historismus war nicht der erste Retro-Trend. Die Renaissance, die die antike Kunst wiederbelebte, trägt ein anderes Wort für Retro sogar im Namen. Die römische Antike kopierte die griechischen Antike. Der Klassizismus entdeckte Ende des achtzehnten Jahrhunderts die hellenistische Architektur neu und stellte ihre Strenge gegen den an der römischen Antike orientierten Barock. Erst mit der enormen Betonung der Innovation durch die Moderne geriet das Nachahmen, Aufgreifen und Wiederentdecken als Teil der Kultur ins Abseits.
[Bearbeiten] Massenmediengesellschaft und Mythos
Die moderne Welt ist in erster Linie als Massenmediengesellschaft zu begreifen, in der alles gleichzeitig passiert, in der Unmassen von Informationen mit Lichtgeschwindigkeit an jeden Ort gelangen, an der nach jedem nur vorstellbaren Bedürfnis gesucht wird, um es zu befriedigen. Man sollte annehmen, in einer solchen Gesellschaft würde es allein durch die schiere Zunahme von Informationen auch zu einer allgemeinen Zunahme von fundiertem, differenzierten Wissen kommen. Diese Annahme bestätigt sich nicht, im Gegenteil, die Massengesellschaft neigt, wie der Medientheoretiker Marshall McLuhan bemerkte, vielmehr zum Mythos und zwar aus ganz praktischen Gründen − ein Mythos ist für die Massengesellschaft schlicht und ergreifend zeitsparender! Wenn wir uns nun fragen, in welchem Verhältnis ein Mythos zum tatsächlichen Ereignis steht, scheint er sich ebenso zu verhalten, wie ein Photo zum abgebildeten Geschehnis. Und bei einem Blick auf die Themenhotels von Las Vegas, die Vergnügungsparks und Jahrmärkte überall in der Welt stellt man fest, dass auch die massenhafte Reproduktion von Mythen, ebenso wie die eines Photos, über das (im Falle des Fotos über das Druck- oder Nyloprint-)Klischee funktioniert. Was hat das nun mit „Retro“ zu tun? Kehren wir zur Moderne zurück, deren oft geradezu fanatische Suche nach Reinheit, Wahrheit und Übereinstimmung von Gehalt und Gestalt nicht zuletzt auch in ihrer Abneigung gegen Bild und Mythos begründet liegt − Bild und Mythos, denen fast zwingend Vereinfachung, Transformation und Verzerrung eigen zu nennen ist. So gesehen, ist ein „Retro“-Trend zwangsläufig mit der Revitalisierung und Reproduktion vergangener Mythen verkettet − ja, untrennbar verbunden. Wie bei den New York Five, die einen mittlerweile zum Mythos gewordenen Le Corbusier in einem „Retro“-Klassische-Moderne-Trend wiederbeleben − und damit unwissentlich selbst die Moderne zum bloßen Trend degradieren?
[Bearbeiten] Retro überall?
Denkt man dies nun zu Ende, Historismus vor der Moderne, Postmoderne danach, die Massengesellschaft als Welt der Mythen, nicht mehr der Wahrheiten und damit als Ort von permanentem „Retro“ − bedeutet das nicht: „Retro“ überall? Der italienische Schriftsteller Roberto Calasso schreibt dazu: „... die Welt unentrinnbar in einer giftige Hülle der Parodie eingewickelt ist. Nichts ist, was es zu sein vorgibt. Alles ist schon im Augenblick seines Erscheinens ein Zitat“. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel für Verwendung und Verquickung von verschiedene Formen des Zitats ist es, wenn Michael Stipe in „Man on the Moon“ ein „Hey Baby“ wie Elvis Presley zu singen scheint. In Wirklichkeit jedoch ist sein Gesang eine Hommage an die berühmte Elvis-Parodie des amerikanischen Komikers Andy Kaufmann. Dieser jedoch parodiert nicht Elvis Presley, sondern dessen Imitatoren. Vor uns liegt also die Hommage an die Parodie einer Imitation. Ähnlich kompliziert ist die berühmte Tanzszene von John Travolta in Pulp Fiction, Travolta tanzt bei seinem großen Comeback nicht einfach nur, Travolta spielt jemanden, der John Travolta spielt. Besonders moderne Ausdrucksformen, wie das Kino und die Pop-Musik, die im engen Verhältnis zur Massengesellschaft entstanden, sind voller solcher sich überlagernder Zitate. Herausragende Vertreter dieses sogenannten postmodernen Kinos sind die Coen-Brüder, Wes Anderson und Quentin Tarantino.
[Bearbeiten] Aktuelle Retrotrends
In den den 90ern bezog man sich vor allem noch einmal auf Pop, Ästhetik und Ideen der 60er und 70er (Exotica, Lounge, Funk, Psychedelic, Rock, Schlager, aber auch im Retro-Design. Sogar im Jazz gab es Ende der 90er eine Retro-Welle, den Retro-Swing, zu dem von Tanzgruppen auch in stilechter Kleidung der 30er/40er-Jahre getanzt wurde.
Allerdings war auch schon die Grunge-Welle Anfang der 90er mit ihren Bezügen zu 70er Jahre-Bands wie The Who, Led Zeppelin, Black Sabbath nach Punk eine Wiedererinnerung an Verlorengegangenes. Dies lässt sich noch weiter zurückverfolgen. In den späteren Siebzigern propagierten AC/DC, Ramones und Motörhead eine Rückkehr zu den rohen Ursprüngen der Rockmusik im Gegensatz zum aufgeblähten Pomp von Pink Floyd, Yes und Queen. Die British Invasion der Sechziger dagegen speiste sich aus zwei Quellen. Während The Rolling Stones, Yardbirds, Cream und Free die große Blueswelle der Vierziger von Otis Rush und Muddy Waters aufgriffen, wurde den Beatles von ihrer Plattenfirma entgegnet, Gitarrenrock wäre nicht mehr modern. Was auch stimmte seit Elvis zur Armee gegangen war und Jerry Lee Lewis seine 13-jährige Cousine Myra geheiratet hatte.
Aktuell im Jahr 2005 findet sich in der Mode immer noch der Retrotrend der 80er bei Club-Musik, Kleidung und Frisuren. Modisch ist zum Beispiel ein leicht punkiges Outfit, wodurch sich viele Jugendliche als Alternative (Subkultur) bezeichnen. Dass darauf entsprechend nun die Wiederholung der 90er folgen könnte, kündigt sich − wenig überraschend − bereits an. Im Winter 2004 kamen mit Sky Captain, Polar Express und Die Unglaublichen gleich drei ausgesprochene Retro-Filme ins Kino. In der Rock- und Popmusik wurde wieder an die sechziger Jahre angelehnter Gitarrenrock von Bands wie den Strokes, White Stripes, Black Rebel Motorcycle Club und Int. Noise Conspiracy zum ersten Boom und Hype des neuen Jahrtausends.
Außerdem fand der „Retrolook“ auch Eingang in die Technik. Einige der Formen die in der Technik von 1910 bis 1960 verwandt wurden, werden von den Designern an Automobilen, Booten und Flugzeugen ganz oder in Teilen wiederverwendet, aber auch an Haushaltsgeräten wie Kühlschränken, Staubsaugern oder Toastern.
„Retro-Design“ beeinflusst auch die Bildende Kunst. So bezeichnet der Künstler Ralf Metzenmacher seine Malerei als „Retro-Art“. Diese sieht er als Kombination aus Kunst und Design und als Weiterentwicklung der Pop-Art.
[Bearbeiten] Siehe auch
Nostalgie, Regression, Rekursion, Innovation, Vintage (Mode)
[Bearbeiten] Literatur
- Elizabeth E. Guffey: Retro: The Culture of Revival. Reaktion, London 2006, ISBN 1-86189-290-X
- Wolfgang Pauser: Retro-Ästhetik. In: Hubertus Butin (Hrsg.): DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst. DuMont Verlag, Köln 2002, S.266-270, ISBN 3-8321-5700-X
- Rem Koolhaas: Delirious New York
- Robert Venturi: Learning from Las Vegas
- Heinrich Klotz: Postmoderne und Moderne
- Marshall McLuhan: Das Medium ist die Botschaft
[Bearbeiten] Weblinks
- Homepage zum Buch: Elizabeth E. Guffey: Retro: The Culture of Revival.
- Retro-Design
- Retro-Portal für Auto Klassiker - Alte Werbung, Broschüren etc.
- Wolfgang Pauser: Die Rückkehr der Zukunft. „Retro-Futurismus“ heißt der Stil des Millenniums
- Niklas Maak: NOSTALGIE UND STIL: Retrofuturismus ist gefälschte Geschichte, in: SPIEGEL ONLINE, 05. Juni 2005
- Christoph Bock: Vom Relikt zur Requisite
- RETRO: Magazin für digitale Retrokultur
- Urban Retro Lifestyle: a guide to all things hip and retro
- Retro To Go: Urban vs Retro - Modern vs Classic - Present vs Past