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Entfremdung

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Entfremdung bezeichnet einen individuellen oder gesellschaftlichen Zustand, in dem eine ursprünglich organisch gedachte Beziehung (zwischen Menschen, Menschen und Arbeit, Menschen und dem Produkt ihrer Arbeit sowie von Menschen zu sich selbst) aufgehoben, verkehrt oder zerstört wird.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Vier Ansätze

1. "Entfremdung" ist der gesellschaftlich voran getriebene und unumkehrbare Prozess der Aneignung der Natur und ihrer materiellen und geistigen Umgestaltung zu Kultur samt der Institutionen, die fremdbestimmt wirken, sobald sie die Menschen beherrschen und sich ihren individuellen und kollektiven Wünschen entgegenstellen.

2. Als "Entfremdung" wird auch das individuelle und der Steigerung fähige Gefühl der Vereinzelung und Abgegrenztheit von allen anderen Lebewesen und Dingen bezeichnet, zu dem Menschen kraft ihrer Selbstreflexion in der Lage sind, und das durch psychische Konstrukte zu überbrücken versucht wird.

Verbindungen zwischen diesen Aspekten bestehen insbesondere in der notwendig eingenommen Gegenposition des Menschen zur Natur und der resultierenden Gefühle von Vereinzelung und Abgegrenztheit des einzelnen Menschen von allem anderen.

3. "Entfremdung" kennzeichnet ein Fremdwerden (auch ein Fremdmachen), wobei dieses Fremdwerden ein selbstverursachtes ist, die eigene Tätigkeit dessen - ob Individuum, Gruppe oder Menschheit überhaupt -, der sich entfremdet sieht oder gesehen wird, ist Ursache für die Entfremdung, wie es das Eigene (oder Angeeignetes) ist, das fremd erscheint oder wirkt. (Achim Trebeß, s.u.)

4. Entfremdung ist ein zentraler Kritikpunkt am Kapitalismus, vor allem bei Karl Marx (ausgehend von Hegel). In diesem Kontext wird argumentiert, dass der Mensch - durch die nur an Profit (bei Marx Mehrwert) orientierte Produktion - von seinem Produkt wie auch von sich selbst entfremdet wird.

[Bearbeiten] Begriff und Geschichte

Ursprünglich bezeichnete "Entfremdung" einerseits juristisch und wirtschaftlich das Veräußern von etwas, z. B. von Besitz und Freiheit und andererseits das sich Lösen vom nur Weltlichen, in Vorbereitung auf das Göttliche. In diesem Sinne war der Begriff positiv markiert und blieb das auch bis ins 19. Jahrhundert, bis zur Romantik und dank der an der Antike orientierten Klassik. Der Mensch war durch die Götter in die allumfassende Endlichkeit des Kosmos eingeordnet. Die Begeisterung der Romantik für das Mittelalter brachte die negativ konnotierte Entfremdung als Kehrseite der Freiheit mit.

Entfremdung konnte aber auch bedeuten, Gott entfremdet zu sein, in Körperliches und Sinnliches verstrickt zu sein und damit den prinzipiell erlösungsbedürftigen Zustand menschlicher Existenz aufzeigen. Für Martin Luther (1545) und später Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (1841) ist das Leben der Heiden in Gottesferne, Unglaube, Unwissenheit und Verblendung das entfremdete Leben. In der Bibel, im Brief des Paulus an die Epheser (4.18) heißt es: "Ihr Verstand ist verfinstert, und sie sind entfremdet dem Leben, das aus Gott ist, durch die Unwissenheit, die in ihnen ist, und durch die Verstockung ihres Herzens."

Im 17. Jahrhundert bezeichnet Blaise Pascal den Menschen als im unendlichen Weltall kosmisch entfremdet. Er stehe in der Mitte zwischen Nichts und All, zwischen unendlichen Extremen, die in Gott vereinigt wären. Da man nicht zu einem dieser Extreme kommen könne, solle man in der Mitte verharren und über diese Abgründe nachdenken. Wie lange zuvor Augustinus und später Kierkegaard plädierte Blaise Pascal für ein christliches Leben, um den durch die Erbsünde gesetzten Zustand einer entfremdeten Welt am besten zu begegnen.

In seinem originären juristisch-wirtschaftlichen Sinne gebraucht auch Jean-Jacques Rousseau den Begriff "Entfremdung". Das menschliche Individuum ging vom Naturzustand solitärer Freiheit in die Freiheit selbstgegebener Gesetze über. Dieses gesellschaftliche Verhältnis verstellte nun die natürlichen und organischen Beziehungen des Menschen zu seiner Natur, zur äußeren Natur und zu seinen Mitmenschen. Dieser Vorgang war nach Rousseau unumgänglich und ist unumkehrbar.

Ende des 18. Jahrhunderts baut Wilhelm von Humboldt einen anderen Ansatz auf: Der Mensch sei in einem Konflikt, "durch den Anspruch seines inneren Wesens, den Inhalt des Begriffs der Menschheit in Person zu schaffen", und durch seine Natur, "von sich aus zu den Gegenständen außer ihm überzugehen". Es komme nun darauf an, "daß er in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere." [Reinhart Maurer 1973] Alles Nicht-Ich, das Fremde, ist immer nur das Material und Instrumentarium, das der Mensch zu seiner Entfaltung gebraucht, mit dem er die unendliche Aufgabe zu erfüllen sucht, sich die Welt bewohnbar zu machen. Der Mensch hat unendliche Freiheit in einer auf endliche, erfahrbare Weise unendlichen Welt, in der er als freies Subjekt nie und nirgends ganz zu Hause sein kann.

Bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel um 1800 ist Entfremdung Selbstentfremdung, so wie Erkenntnis gleich Selbsterkenntnis ist - ein Prozess, in dem das Selbst seine Wirklichkeit als durch seine Tätigkeit geworden begreift und sich diese seine Wirklichkeit aneignet. Es ist also ein höheres Bewusstsein seiner selbst, der Geist wird im menschlichen Bewusstsein Gegenstand seiner selbst. Dabei treten Subjekt als Selbstbewusstsein und Objekt, als die äußerliche Welt auseinander. Entfremdung ist die Bewegung des sich selbst Wirklichkeit gebenden Subjekts, also Selbstentfremdung. Daraus folgt eine sich sukzessiv höherentwickelnde Durchdringung von Subjekt und Objekt.

Die Aufhebung der Entfremdung sieht Hegel in der "wahrhaft religiösen Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie begreift [...] nicht aber im Glauben, der Flucht aus dem »Reiche der Gegenwart« ist." [a.a.O.] "Was der Geist will, ist, seinen eigenen Begriff erreichen (den Ort an dem er theoretisch und praktisch in Harmonie mit dem Ganzen steht); aber er selbst verdeckt sich denselben, ist stolz und voll Genuß in dieser Entfremdung seiner selbst." [Hegel: Die Vernunft in der Geschichte, hier zitiert nach: Reinhart Maurer 1973]

Ähnlich - nur christlich gewendet - sieht der Romantiker Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling 1827 die Entfremdung: "das im Menschen sich selbst Bewußte und zu sich Gekommene." Vor allem ist es bei Schelling aber auch die Entfremdung von Gott. Damit wird wieder auf den versöhnungsbedürftigen Zustand der Welt nach Vollendung der Schöpfung hingewiesen. Schelling sieht durch das menschliche Bewusstsein einen kosmologisch katastrophalen Fall auf der Welt eingetreten. Hier haben wir die romantisch-historistische Verknüpfung von Schöpfungslehre, Bewusstseinsphilosophie und theologischer Geschichtsphilosophie.

Für Ludwig Andreas Feuerbach ist Religion nur die Projektion des menschlichen Wesens auf ein ihm äußerliches, fremdes Wesen. Gott ist also das entfremdete Wesen des Menschen. Feuerbachs Ziel war es, die Theologie in die Anthropologie aufzulösen. Denn Religion sei eine bloße jenseitige Kompensation der diesseitigen Entfremdung.

Karl Marx gebraucht den Begriff schließlich in einer ganz "weltlichen" Weise: Der Arbeiter, der seine Arbeitskraft verkauft, produziere nicht für sich selbst und sei zufolge der Arbeitsteilung nur ein Glied in der Produktionskette. Das Arbeitsprodukt werde ihm entfremdet, und so entfremde er sich auch von seinen Mitmenschen. Im Geld zeige sich das entfremdete Wesen des Daseins, das die Menschen beherrsche, das diese zu allem Übel auch noch anbeteten. Ausgang aus dieser Situation gibt es für Marx nur unter veränderten Besitz- und Produktionsverhältnissen. Diese Verwendung nach Marx hat sich weitgehend durchgesetzt. Dabei nicht zu vernachlässigen ist aber das auch von Marx gemeinte schmerzliche Empfinden eines Mangels von Selbstverwirklichung, das sich bei entfremdeter Arbeit einstellt.

Weltanschaulich weiter geht noch die "existentielle Erfahrung, ein endgültiges Zuhause noch nicht gefunden zu haben". [Peter Ehlen 1976] Dabei handelt es sich um einen psychologischen Zustand der Dissoziation, dessen anderer Bezugspunkt ein Zustand der Vertrautheit, des Heimischseins, der Harmonie und Liebe zu sein scheint. Seit dem 19. Jahrhundert gibt es den Begriff Entfremdung auch als medizinisch-psychiatrischen Begriff für Wahnsinn und Irresein.

[Bearbeiten] Entfremdung unter modernen Bedingungen

Für den französischen Soziologen Émile Durkheim kommt Entfremdung aus dem Verlust gesellschaftlicher und religiöser Traditionen. Für viele europäische Soziologen des ausgehenden 19. Jh. und frühen 20. Jh. war Entfremdung ein beherrschendes Thema: die Entfremdung des Menschen von primären sozialen Bindungen (z.B. Familie) durch Individualisierung, die Entfremdung von der Natur durch Urbanisierung, die Entfremdung von der Arbeit durch Technisierung und Rationalisierung. Georg Simmel hat in der "Philosophie des Geldes" moderne Beziehungen analysiert und kritisiert. Ferdinand Tönnies hat mit "Gemeinschaft und Gesellschaft" einen Klassiker der Soziologie geschaffen: Die moderne Gesellschaft zeichnet sich bei ihm gegenüber der sozialen Form der Gemeinschaft durch entfremdete Zweckbeziehungen aus, auch er findet kritische Worte für die Neuzeit.

Das Konzept der Gemeinschaft wurde auch als romantisch bezeichnet. Für Martin Heidegger ist es die Seinsvergessenheit. Er sieht den technischen Humanismus als Grund der Entfremdung; dieser seit der selbstentfremdete Teil menschlicher Wesenskräfte, geboren aus dem Willen zum Willen zur Macht. Die technisch und institutionell durchwirkte Zivilisation, in der alles mit allem unübersehbar zusammenhängt und sich dem Einfluss des Einzelnen versperrt, fasst Heidegger in dem Terminus "Gestell" zusammen.

Die gesellschaftlichen Mechanismen und Abhängigkeiten werden von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sehr genau herausgearbeitet. "Radikale Vergesellschaftung heißt radikale Entfremdung." [Adorno/Horkheimer 2000, S. 58] Es wird klargestellt, dass die Macht über die Natur mit der Entfremdung von der Natur bezahlt wird. Eine Überwindung der Entfremdung ist so also nicht möglich. Gesellschaft und Kultur setzen Entfremdung voraus, brauchen sie geradezu. Der Einzelne kann sich der Entfremdung bedingt entziehen, indem er sich der Gesellschaft entzieht, sich auf Geist und Kunst konzentriert, sich von der Erwerbsarbeit fern hält.

Wie Erich Fromm sagen auch Adorno und Horkheimer, dass die Masse nicht nur durch ihre Arbeitsbedingungen entfremdet ist, sie ist es auch in ihrer Freizeit. Hinsichtlich der Entfremdung gibt es keine Trennung von Arbeit und Freizeit mehr. Freizeit ist Trägheit, Vergnügen, Konsum, Unterhaltung, Zerstreuung und dergleichen mehr. Das Stichwort hierzu ist Kulturindustrie. "Kulturindustrie vermag zum einen, Kultur, Kunst der Industrie, der Verwertung zu unterwerfen und zum anderen mit genau dieser industrialisierten Kultur die Individuen in der Entfremdung zu halten, und zwar unter dem Beifall des Publikums." [Trebeß 2001, S. 150]

In der Ästhetischen Theorie Adornos wird der Gedanke entwickelt, dass es ohne Entfremdung keine Kunst gäbe und ohne Kunst käme es zur totalen Entfremdung. So ist die Kunst ein Produkt der Entfremdung und ein Ort der Befreiung von ihr zugleich. Die generelle Ohnmacht der Kunst habe sich jedoch am deutlichsten im Faschismus erwiesen und erweist sich immer noch in der Universalität der Warenproduktion, die durch Arbeit und Geld Ergebnis und Ursache von Entfremdung ist. Kunst ist deshalb ohnmächtig, weil sie sich aus der Empirie befreit und so über sie auch keine Macht hat, der Empirie viel mehr die Vormacht lässt. Je weniger sich die Kunst der Gesellschaft gegenüberstellt und je mehr sie sich einbinden lässt, affirmativ ist, desto eher treibe Kunst die Entfremdung sogar noch voran. Kunst unterliege einer Aporie, nach der sie zur Affirmation verkommt, wenn sie sich der Gesellschaft öffnet, aber harmlos und ohne Einfluss bleibt, wenn sie sich der Gesellschaft entzieht und verschließt. So lässt sich nichts weiter konstatieren, als dass Gesellschaft und Kunst mit der Entfremdung in ihre je eigene Katastrophe gehen. Kunst müsse sich entweder selber abschaffen, abgeschafft werden oder "verzweifelt sich fortsetzen".

Kunst könne also nicht Macht gegen Entfremdung sein, könne aber "Bewußtsein des anderen sein, seine selbstverdinglichte, zum Produkt geronnen Realität." [Trebeß 2001, S. 162] Sie kann einen Entwurf eines Lebens ohne Entfremdung darstellen, ohne dass sie sich im Bereich der Praxis realisiere. Kunst stelle das Leiden an der Entfremdung dar und ermögliche ein individuelles und natürliches Verwirklichen. Das Verwirklichen der Individuen und auch das der Natur sei in der Gesellschaft unterdrückt, dagegen protestiere die Kunst und sei dadurch Entwurf des Besseren, des Glücks, der Wahrheit, des Nutzlosen. Kunst sei das Aushalten der Entfremdung - ein Standpunkt, der vielleicht an den der Kunst als Religionsersatz erinnert.

Um 1968 verbreiten sich Ideen der Situationisten, die der Entfremdung durch eine Aufhebung der Trennung zwischen Kunst und Leben begegnen wollen. Ihr Begriff von Entfremdung umfasst alle Bereiche des Lebens, die einer Herrschaft der Ware unterworfen seien: Nicht nur die Enfremdung des Arbeiters von seinem Produkt wie bei Marx, sondern auch und hauptsächlich die Entfremdung und Trennung der Subjekte voneinander im Alltagsleben (siehe auch Verkaufspsychologie) sei entscheidend in einer Zeit, die die Gesellschaft als rationale Menge von kybernetischen (Wirtschafts-)Kreisläufen ansieht. Solche Ideen stehen aber auch insgesamt für die 68er-Bewegung, die im rationalisierten Leben der Moderne nicht Wohlstand und offene Gesellschaft, sondern eher eine Technokratie mit einem System repressiver Toleranz (Herbert Marcuse)erkennt.

Der konservative Kulturkritiker Arnold Gehlen, der die 68er und ihre Ideen scharf ablehnt, spricht vom Vorteil moderner Kunst, "eine rein kunstbezogene Einstellung des Betrachters zu erzwingen". [Gehlen 1965, S. 201). Für Selbstverwirklichung sei in der Demokratie ohnehin kaum Platz. Die Reflexion komme in der Kunst an, das Strömen sei vorbei, es beginne das "Denken". Die Entfremdung halte Einzug in der Kunst. In der Malerei könne man sehen, "wie sich ein sehr alter Kulturbereich von innen her umgestaltet, um sich den Lebensgesetzen der voll durchgeführten Industriegesellschaft einzufügen". [Gehlen, Arnold: Zeitbilder, Frankfurt a. M., Bonn 1965, S. 222] Diese kühl imprägnierte Kunst, die Emotion abzuweisen scheint, lege den Fokus auf die Technik, auf die Machbarkeit und Methode, während die Ergebnisse keine Wichtigkeit mehr erreichten. Eine "Drehung zur eigengenügsamen Entfaltung des Machbaren ist [...] unübersehbar." [Gehlen 1965, S. 190]. Einen ursprünglichen konservativen Kulturpessimismus wendet Gehlen also, indem er der Entfremdung positive Eigenschaften zuspricht, so dass es bei Gehlen unsinnig wird, gegen entfremdete Lebensbedingungen (wie die marxistischen Situationisten) vorzugehen. Dass für Selbstverwirklichung "sowieso kein Platz" sei, wird von ihm offenkundig mit Befriedigung zur Kenntnis genommen.

So wie Adorno "Entfremdung", gebraucht Gehlen "Entlastung" synonym für Kultur. Der euphemistische Beiklang ist nicht ganz zufällig: Gehlen interpretiert die Entfremdung, die er durchaus überall erkennt, als den Menschen entlastend. Nur wenn es auf eine Wertung ankommt, kann Adorno dieses verhältnismäßig positive Moment der Entlastung nicht anerkennen. Im gesamten Kontext des Entfremdungsbegriffes dürfte es unstrittig sein, dass ein Leben ohne Kultur für Menschen nicht in Frage kommt und Kultur sofort Entfremdung nach sich zieht. Diese Entfremdung ist immer auch Entlastung, das Ausklammern der abgründigen existenzialistischen Fragen und Ängste aus seinem täglichen Erleben macht einen z. B. frei, für das tätige, praktische Leben.

Nicht einmal die Kulturindustrie mag Gehlen kritisieren. Es mutet an, als wolle Gehlen Adornos Kritik an der Kulturindustrie einfach vom Tisch wischen, wenn er schreibt: "Dieser marktbezogenen Großorganisation, die an die Stelle des gesellschaftlichen Auftrages trat, ist es zu verdanken, daß die Künstler leben können und die Kunst am Leben bleibt." [Gehlen 1965, S. 208] Gehlen plädiert also für die vorhandene Ordnung, für ein fortgesetztes Entfremden auf allen Ebenen, mit allen Mitteln. Abstufungen der Grade von Entfremdung scheint es für ihn nicht zu geben. Daraus wird auch klar, dass es in der Kultur das Ziel, der Entfremdung zu widerstehen für Gehlen gar nicht geben kann, nicht für die Philosophie, für die Wissenschaft schon gar nicht und nicht einmal für die Kunst.

Das Aushalten und der Widerstand gegen die Entfremdung durch das Subjekt, wie das bei Adorno beschrieben wird, ist für Baudrillard wiederum die einzige Möglichkeit, überhaupt noch Subjekt zu sein und seine Identität zu bewahren. Das heißt andersherum: „Subjektivität braucht Entfremdung.“ [Trebeß 2001, S. 192] So kommt es dazu, dass Baudrillard einen Verlust der Entfremdung zu Gunsten der Fraktalität, der Zersplitterung und des Verlöschens des Einzelnen beklagt. Wenn die Entfremdung noch ein Leiden an ihr provozierte, das Problem der menschlichen Existenz stellte, so verschwinde dieses Leiden und Existieren in der allumfassenden Vernetzung durch Kommunikation. Befriedigt wird aber festgestellt, dass letztlich doch ein Gefühl der Entfremdung bleibe. Vielleicht wird hier auch nicht mehr gesagt als schon bei Fromm, der durch eine „profane“ Entfremdung (Konsum, Zerstreuung usw.) die existenzielle Entfremdung verstellt sah und hier den Schnittpunkt dieser beiden Entfremdungsbegriffe darlegte. Dieser Schnittpunkt scheint ein wichtiger Punkt zu sein. Hier liegt die Entfremdung im Zustand ihrer Änderbarkeit vor.

[Bearbeiten] Ausblick

Was "Entfremdung" betrifft, scheint in der deutschen Philosophie nur gewiss zu sein, dass man ihr gegenüber machtlos sei. Ganz klar kann man das bei Adorno erkennen, bei dem die Entfremdung das gesamte Leben der Menschen wie eine Schicksalsmacht übermannt. Und nur scheinbar positiv gewendet findet man den Begriff bei Gehlen, der zwar das, was andere Entfremdung oder Uneigentlichkeit nennen, Entlastung nennt, der aber die Katastrophe, die das unendliche Ausdehnen dieser Entlastung bedeutet auch nur hinnehmen kann.

Zu überlegen wäre, ob man Entfremdung nicht nach ihrem Grade und ihren Folgen differenzieren kann. Die Entlastung des Menschen, die die Naturunterwerfung mit sich brachte, ist eben so wenig zu leugnen, wie die globale Zerstörung und auch die der Psychen. Ein Zurückdrehen dieser Prozesse ist unmöglich. Man kann sich als Individuum sicherlich mehr oder weniger stark "von sich selbst" entfremden, d. h., man kann mehr oder weniger darauf achten, dass man sich nicht allen "Zerstreuungsinstitutionen" wie Konsum, Medien und Arbeit unterwirft, man kann mehr oder weniger darauf achten, eine Selbstverwirklichung anzustreben, so sehr es richtig sein mag, dass sich nicht ein jeder selbst verwirklichen können wird. Dies wäre eine Haltung der Affirmation.

Der Poststrukturalismus kommt allerdings teilweise zu anderen Schlüssen.

[Bearbeiten] Literatur

  • Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 2000.
  • Gehlen, Arnold: Zeitbilder, Frankfurt a. M., Bonn 1965.
  • Gehlen, Arnold: Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung., Gesamtausgabe, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1983.
  • Jaeggi, Rahel: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems., Frankfurt (Main), 2005.
  • Maurer, Reinhard, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Band I, München 1973.
  • Mészáros, István: Der Entfremdungsbegriff bei Marx, München, 1973.
  • Ehlen, Peter, in: Philosophisches Wörterbuch, hrsg. von Walter Brugger, Freiburg im Breisgau 1976.
  • Henning Ottmann, Hans Günter Ulrich: Entfremdung I. Philosophisch II. Theologisch-ethisch. In: Theologische Realenzyklopädie 9 (1982), S. 657-680
  • Trebeß, A.: Entfremdung und Ästhetik. Stuttgart 2001.
  • Falk, G. & Pfreundschuh, W.: Entäußerung und Entfremdung bei Marx München, 1978
  • Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Edition Tiamat
  • Popper, Karl: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen, 2003.

[Bearbeiten] Siehe auch

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