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Haiku - Wikipedia

Haiku

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

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Dieser Artikel behandelt die Gedichtform Haiku. Für das gleichnamige Betriebssystem, siehe Haiku (Betriebssystem).

Ein Haiku (jap. 俳句, lustiger Vers) ist eine japanische Versdichtung.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Geschichte

Vorläufer des Haiku waren das Tanka (5-7-5 und 7-7 Moren) und das Renga (eine Kette von Tanka). Ursprünglich verfassten mehrere Dichter Tanka bei geselligen Anlässen in gemeinsamer Improvisation. Der erste Dichter schuf das Hokku (Oberstrophe, 5-7-5) der zweite das Matsuku (Unterstrophe, 7-7). Diese Form des gemeinsamen Dichtens war auch als Waka (Antwortgedicht) bekannt. Später dichtete man in größeren Gesellschaften ganze Ketten von Tanka in einer Art Gesellschaftspiel. Damit war das Haikai-Renga entstanden. Die Strophen knüpften motivisch aneinander an.

Aus dem 13. Jahrhundert finden sich die ersten belegten Herauslösungen des Hokku als eigenständige lyrische Form. In der folgenden Zeit war das Hokku als Scherz- und Witzgedicht bei Hofleuten und Samurai beliebt. Ab dem 15. Jahrhundert begann sich das Hokku neben dem Tanka als eigenständige Versform zu etablieren. Noch ging es vorrangig um das Spiel mit Worten und Bildern.

Erst im 16. Jahrhundert mit Beginn der Edo-Periode entstand die Form, die wir heute als traditionelles Haiku bezeichnen. Voraussetzung dafür waren einige Besonderheiten der Edo-Periode. Die Gesellschaft war geprägt durch ein feudalistisches Klassen- und Ständesystem. Zudem schottete sich Japan fast vollständig nach außen ab. So entstand eine in sich geschlossene, scheinbar unveränderliche Welt. Durch dieses genau definierte Werte- und Symbolsystem hatten Dichter und Rezipienten über Jahrhunderte einen gemeinsamen, klar abgegrenzten Verstehenshintergrund. Veränderungen fanden nur im Detail statt. Und so war die Entwicklung der lyrischen Form Haiku geprägt von der Bemühung den noch treffenderen noch genaueren Ausdruck zu finden und nicht davon, Traditionen zu hinterfragen oder gar neue Formen zu entwickeln. Daher blieben Form und Inventar über Jahrhunderte hinweg so gut wie unangetastet. Wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Kunstform Haiku hatte das Gedankengut des Zen-Buddishmus.

Der erste große Haiku-Dichter war Matsuo Bashō (1644-1694), dessen Frosch-Haiku wohl das meistzitierte Haiku der Welt ist:

古池や furu ike ya Der alte Weiher:
蛙飛び込む kawazu tobikomu Ein Frosch springt hinein.
水の音 mizu no oto Oh! Das Geräusch des Wassers. [1]


Große Haiku-Dichter waren zudem Buson und Kobayashi Yataro, genannt Issa, aus der Provinz Shinano. Issa brach zuweilen mit der konventionellen und erstarrten 5-7-5-Form. Seinen Werken, die der zunehmenden Sophistizierung der Haikus eine Absage erteilten, liegt eine tiefe Liebe zu Mensch und Kreatur zugrunde, die oft mit einem feinen Schuss Humor gewürzt waren:

Auf dem Seerosenblatt der Frosch
aber was macht er
für ein Gesicht?

Wann der Begriff Haiku geprägt wurde ist umstritten. Einige schreiben ihn Masaoka Shiki (1867-1902) zu. Andere Autoren sprechen aber auch davon, dass sich der Begriff bereits zu Zeiten Bashos durchzusetzen begann. Die Zusammensetzung erfolgte wahrscheinlich aus Haikai (Haikai-Renga) und Hokku.

[Bearbeiten] Allgemeines

Aus dem Vorwort des Kokinshu (Sammlung alter und neuer Gedichte) aus dem Jahre 905 stammt folgendes Zitat:

„Die japanische Dichtung hat als Samen das menschliche Herz, und ihr entsprießen unzählige Blätter von Wörtern. Viele Dinge ergreifen die Menschen in diesem Leben: sie versuchen dann, ihre Gefühle durch Bilder auszudrücken, die sie dem entnehmen, was sie sehen und hören.“ [2]

Dietrich Krusche nennt Prinzipien die im Regelfall für das Haiku gelten: Ein Haiku ist konkret. Gegenstand des Haiku ist ein Naturgegenstand außerhalb der menschlichen Natur. Abgebildet wird eine einmalige Situation oder ein einmaliges Ereignis. Diese Situation bzw. dieses Ereignis wird als gegenwärtig dargestellt. Im Haiku findet sich ein Bezug zu den Jahreszeiten.[3]

Dem Bezug auf die Jahreszeit dienen Kigo, spezielle Wörter oder Phrasen, die in Japan allgemein mit einer bestimmten Jahreszeit in Verbindung gebracht werden.

Die dargestellten Dinge sind Repräsentanten erlebter Momente und der damit verbundenen Gefühle. Die Natur spiegelt die Seele. Objekte werden stellvertretend und symbolhaft benutzt. Ein Bild als Beispiel: Fallende Blätter, Assoziation: Herbst, Gefühl: Melancholie. Darüber hinaus verweisen einige Autoren der betrachtenden Literatur auf eine weitergehende noch kulturspezifischere Symbolik. Bestimmte Objekte stehen ihrer Meinung nach stellvertretend für religiöse, gesellschaftliche und philosophische Themen. So nennt Bodmershof[4] beispielhaft den herabstürzenden Regen als Symbol des Todes oder das Haus als Symbol des irdischen Körpers.

Viele Haiku sind in kalligraphisch schöner Form dargestellt. Die Silbenzahl ergibt im Japanischen einen Sprechtakt, der einen ähnlichen Erinnerungswert bietet wie im Deutschen die Reime.

[Bearbeiten] Aufbau

Die japanische Dichtung ist nicht Silben zählend, sondern quantisierend. Ein Haiku nach traditionellem Vorbild besteht aus einem Vers zu drei Wortgruppen à fünf, sieben und fünf japanischen Moren (5-7-5). Eine Mora ist eine Sprechzeiteinheit.

Eine japanische Silbe trägt eine Mora, wenn der Vokal kurz ist und die Silbe offen auslautet. Ein langer Vokal trägt zwei Moren. Ein n am Schluss einer Silbe oder ein verdoppelter Konsonant (Sokuon, wörtlich „gespannter Laut“) trägt ebenfalls eine Mora. Die meisten rein japanischen Wörter bestehen aus Silben mit einer Mora. Silben mit mehreren Moren sind meist sinojapanischen Ursprungs.

Ein Beispiel:

Nippon wa ist die erste Zeile eines Haiku und besteht aus fünf Moren wie folgt:

Ni + p + po + n + wa.

[Bearbeiten] Offenheit für verschiedene Lesarten

Japanische Haikus werden normalerweise in Hiragana geschrieben, d. h. in einer reinen Lautschrift ohne die Bedeutung spezifizierende Wortzeichen. Ein berühmter Haiku lautet beispielsweise:[5]

ひるからは hi ru ka ra ha
ちとかげもあリ chi to ka ge mo a ri
くものみね ku mo no mi ne

Außerdem werden Haikus im Japanischen in der Regel nicht in Zeilen gesetzt, so dass dieser Haiku schlicht so geschrieben wird:

ひるからはちとかげもあリくものみね

Aufgrund der hohen Zahl von Homonymen im Japanischen lässt sich dieses Gedicht auf zwei völlig unterschiedliche Weisen verstehen, die in einer im Folgenden demonstrierten Schreibung mit Kanji festgelegt wären, aber üblicherweise durch den Verzicht darauf bewusst offen gelassen werden:

1. Lesart
昼からは hiru kara ha Ab dem Mittag
ちと影も在り chito kage mo ari ist es etwas schattig,
雲の峰 kumo no mine und es ist ein Wolkenhimmel.
 
2. Lesart
ヒル蚊ら蜂 hiru ka-ra hachi Blutegel, Moskitos, Bienen,
とかげも蟻 tokage mo ari Eidechsen, auch Ameisen,
蜘蛛蚤ね kumo nomi ne Spinnen und Flöhe, gell?

Der Reiz solcher Mehrdeutigkeiten lässt sich in anderen Sprachen als dem Japanischen natürlich nicht adäquat wiedergeben.

[Bearbeiten] Westliche Leseweisen

Roland Barthes unterscheidet die unterschiedlichen Möglichkeiten des Haiku zu lesen. Eine westliche Leseweise des Haiku, die es symbolisch interpretiert und dabei einen zum Methaphysischen tendierenden Sinn unterstellt, hält er für unangemessen eurozentristisch. Ein solche Leseweise widerspricht der Intention des Haiku, das dagegen "Wort und Ding in eins fallen" lässt. [6] Barthes vergleicht das Haiku mit dem satori des Zen-Buddhismus und sieht eine wesentliche Analogie darin, eine Wahrheit lediglich aufblitzen [7] zu lassen: "Der Westen tränkt alle Dinge mit Sinn … wir unterwerfen die Äußerungen systematisch (durch hastiges Zustopfen der Lücken, in denen die Leere unserer Sprache sichtbar werden könnte) der einen oder anderen dieser beiden Signifikationen (d.h. aktiven Herstellung von Zeichen): Symbol und Schluß, Metapher und Syllogismus. Der Haiku, dessen Sätze einfach und flüssig sind - mit einem Wort, akzeptabel (wie man in der Linguistik sagt) -, wird einem dieser beiden Reiche des Sinns zugeordnet." [8] Entgegen den Interpretationsversuchen westlicher Art, "ob Dechiffrierung, Formalisierung oder Tautologie … die bei uns dazu bestimmt sind, den Sinn zu durchdringen, d.h. in ihn einzubrechen", könnten den "Haiku mithin nur verfehlen, denn die Lesearbeit, die mit ihm verbunden ist, liegt darin, die Sprache in der Schwebe zu halten, und nicht darin, sie zu provozieren." [9] Dagegen ginge es vielmehr darum, den Sinn "zu erschüttern und ausfallen zu lassen wie den Zahn des Absurditätenbeißers, welcher der Zen-Schüler angesichts eines Koan sein soll." [10]

[Bearbeiten] Haiku außerhalb Japans

Erst Mitte des 20. Jahrhunderts begann das Haiku auch die westliche Welt zu erobern. Zunächst verbreitete es sich in Nordamerika und im gesamten englischen Sprachraum. Ein wichtiger Wegbereiter war der Engländer Reginald Horace Blyth, der zeitweise als Lehrer am japanischen Hof arbeitete und von 1949 bis 1952 eine vierbändige Anthologie mit dem Titel „Haiku“ veröffentlichte. Heutzutage werden Haiku in fast allen Sprachen der Welt geschrieben.

[Bearbeiten] Deutschsprachige Haiku

Auch im deutschsprachigen Raum hat das Haiku inzwischen Fuß gefasst. Üblicherweise wird dabei das Silbenmuster 5-7-5 verwendet, es ist allerdings umstritten, da Silben in der deutschen Sprache viel freier gebildet werden können als Moren im Japanischen und daher nicht zwangsläufig einen Rhythmus ergeben. Nach einer Gewöhnung an die typische Kürze des Haiku mittels des strengen Musters verfassen viele Autoren seit einigen Jahren immer öfter Dreizeiler ohne Silbenzählung.

Lange Zeit auf eine kleine Gemeinde von Haikuschreibenden beschränkt, hat sich in den letzten Jahren eine lebendige Szene im Internet entwickelt.

[Bearbeiten] Verwandte Begriffe

Eine Form, die sich mehr mit dem Persönlichen und Emotionalen befasst, ist der dem Haiku sehr ähnliche Senryū.

[Bearbeiten] Literatur

[Bearbeiten] Ausgaben

  1. Eastern culture. S. 2-343.
  2. Spring. S. 345-640.
  3. Summer, autumn. S. 641-976.
  4. Winter. S. 977-1300.
  • Dietrich Krusche (Hrsg.): Haiku. Japanische Gedichte. Dtv, München 2002, ISBN 3-423-12478-4
  • Ekkehard May (Hrsg.): Shômon. Dieterich' sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2000 ff.
  1. Das Tor der Klause zur Bananenstaude, Haiku von Bashôs Meisterschülern Kikaku, Kyorai, Ransetsu. 2000, ISBN 3-87162-050-5
  2. Haiku von Bashôs Meisterschülern Jôsô, Izen, Bonchô, Kyoriku, Sampû, Shikô, Yaba. 2002, ISBN 3-87162-057-2
  3. CHÛKÔ - Die neue Blüte. 2006, ISBN 978-3-87162-063-8
  • Jan Ulenbrook (Hrsg.): Haiku. Japanische Dreizeiler. Reclam, Stuttgart 2004, ISBN 3-15-050048-6.

[Bearbeiten] Sekundärliteratur

  • Reginald H. Blyth: A History of Haiku. Hokuseido Press, Tokio 1976-1977
  1. From the beginnings up to Issa. 1976
  2. From Issa to the present. 1977
  • Andreas Wittbrodt: Hototogisu ist keine Nachtigall. Traditionelle japanische Gedichtformen in der deutschsprachigen Lyrik (1849–1999). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005 ISBN 3-89971-257-9

[Bearbeiten] Weblinks

[Bearbeiten] Quellen

  1. In der Suhrkampübersetzung von Roland Barthes: Das Reich der Zeichen. Frankfurt a.M., 1981
  2. Donald Keene, Japanische Literatur : Eine Einführung f. westl. Leser, Zürich, 1962. - ISBN B0000BK1R1
  3. Krusche, Dietrich: Essay, Erläuterungen zu einer fremden literarischen Gattung in: Hrsg. Krusche: Haiku, Japanische Gedichte:dtv, München, 1997
  4. Bodmershof von, Wilhelm: Studie über das Haiku in: Bodmershof von, Imma: Haiku: dtv München, 2002
  5. Das Beispiel mit seinen verschiedenen Lesarten stammt von Marion Grein, Einführung in die Entwicklungsgeschichte der japanischen Schrift, Mainz 1994, ISBN 3-88308-063-2, S. 69 f.; Grein verweist ihrerseits auf Haruhiko Kindaichi, The Japanese Language, Rutland u. a. 21985, S. 112.
  6. Bettina Krüger (1997): Sehnsucht nach dem ganz anderen. Roland Barthes’ L’Empire des signes – eine Japan-Reise? In: parapluie no. 2 (sommer 1997).[1] ISSN 1439–1163
  7. Roland Barthes verweist in diesem Zusammenhang am Ende von L'Effraction du sens ( Der Einbruch des Sinns) auf das Haiku von Matsuo Bashō: Wie bewundernswert ist doch, / Wer nicht denkt: "Das Leben ist vergänglich", / Wenn er einen Blizt sieht.
  8. Roland Barthes: Der Einbruch des Sinns. In: Roland Barthes: Das Reich der Zeichen. Frankfurt a.M., 1981. Seite 65, 96
  9. Roland Barthes: Der Einbruch des Sinns. In: Roland Barthes: Das Reich der Zeichen. Frankfurt a.M., 1981. Seite 98
  10. Roland Barthes: Der Einbruch des Sinns. In: Roland Barthes: Das Reich der Zeichen. Frankfurt a.M., 1981. Seite 98


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