Goldene Regel
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Als goldene Regel wird allgemein ein für eine gesellschaftliche Gruppe wichtiger Merkspruch oder ein markantes Motto bezeichnet, im engeren Sinne bezieht sich die Bezeichnung aber auf die in dem Sprichwort
- Was du nicht willst, dass man dir tu', das füg' auch keinem andern zu.
ausgedrückte moralische Regel, die in mannigfaltigen Variationen Grundbestandteil der ethischen Vorstellungen vieler Religionen ist. Einerseits ist sie von Kants kategorischem Imperativ zu unterscheiden, denn die goldene Regel bezieht sich auf den Einzelnen (und sein Gegenüber), nicht auf ein allgemeines Sittengesetz. Andererseits erhebt auch die goldene Regel formal einen universellen Geltungsanspruch und abstrahiert vom konkreten Einzelfall. Manche bezeichnen sie als volkstümliche Variante des kategorischen Imperativs. Für viele Philosophen beinhaltet die goldene Regel den Kern von Moral, weil sie an die menschliche Vorstellungskraft, Einfühlung, Gegenseitigkeit und Folgenbewusstsein appelliert.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Beispiele (chronologisch geordnet)
- 8.-6. Jahrhundert v. Chr.: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR." (Die Bibel, Leviticus 19, 18), Judentum
- 620 v. Chr.: "Was immer du deinem Nächsten verübelst, das tue ihm nicht selbst." Pittakos von Mytilene, einer der griechischen Sieben Weisen
- 6. Jahrhundert v. Chr.: "Verletze nicht andere auf Wegen, die dir selbst als verletzend erschienen." (Udana-Varga 5, 18), Buddhismus
- 500 v. Chr.: "Tue anderen nicht, was du nicht möchtest, dass sie dir tun." (Analekten des Konfuzius 15, 23), Konfuzianismus
- 500 v. Chr.: "Ein Wort, das als Verhaltensregel für das Leben gelten kann, ist Gegenseitigkeit. Bürde anderen nicht auf, was du selbst nicht erstrebst." (Lehre vom mittleren Weg 13, 3), Konfuzianismus
- 500 v. Chr.: "Daher übt er (der Weise) keine Gewalt gegen andere, noch heißt er andere so tun." (Acarangasutra 5, 101-102), Jainismus
- 500 v. Chr.: "Füge anderen nicht Leid durch Taten zu, die dir selber Leid zufügten." Buddhismus
- 5. Jahrhundert v. Chr.: "Tue anderen nicht an, was dich ärgern würde, wenn andere es dir täten." Sokrates, griechischer Philosoph
- 400 v. Chr.: "Soll ich mich andern gegenüber nicht so verhalten, wie ich möchte, dass sie sich mir gegenüber verhalten?" Platon, griechischer Philosoph
- 4. Jahrhundert v. Chr.: "Man soll sich nicht auf eine Weise gegen andere betragen, die einem selbst zuwider ist. Dies ist der Kern aller Moral. Alles andere entspringt selbstsüchtiger Begierde." (Mahabharata, Anusasana Parva 113, 8; Mencius Vii, A, 4), Hinduismus
- 2. - 4. Jahrhundert v. Chr.: "Was alles dir zuwider ist, das tue auch nicht anderen an." (Shayast-na-Shayast 13, 29 - Mittelpersische Schrift), Zoroastrismus
- 2. - 4. Jahrhundert v. Chr.: "Dass die (menschliche) Natur nur gut ist, wenn sie nicht anderen antut, was ihr nicht selbst bekommt." (Dadistan-i-Dinik 94, 5 - Mittelpersische Schrift), Zoroastrismus
- 200 v. Chr.: "Was du nicht leiden magst, das tue niemandem an." Judentum, Buch Tobit. – Martin Luther übersetzt „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ (Tobias 4,16 in den Apokryphen der Revidierten Ausgabe von 1984)
- 150er v. Chr.: "Dies ist die Summe aller Pflicht: Tue anderen nichts, das dir Schmerz verursachte, würde es dir getan." (Mahabharata 5, 1517), Hinduismus und Brahmanismus
- 1. Jahrhundert: "Alles, was ihr für euch von den Menschen erwartet, das tut ihnen auch." (Die Bibel, Matthäus 7, 12; Lukas 6, 31), Christentum
- 90 v. Chr.: "Was du selbst zu erleiden vermeidest, suche nicht anderen anzutun." Epiktet
- 2. Jahrhundert: "Was dir selbst verhasst ist, das tue nicht deinem Nächsten an. Dies ist das Gesetz, alles andere ist Kommentar." (Talmud, Shabbat 31a), Judentum
- (19. Jahrhundert): "Und wenn du deine Augen auf die Gerechtigkeit wendest, so wähle für deinen Nächsten dasjenige, was du für dich selbst erwählet hast." (Brief an den Sohn des Wolfs 30), Bahai
- 1970er: "Ich denke von dir, wie ich wünsche, dass du über mich denkst. Ich spreche von dir, wie ich wünsche, dass du über mich sprichst. Ich handle dir gegenüber so, wie ich wünsche, dass du es mir gegenüber tust." Arthur Lassen
- 1997: "Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu." (Die Goldene Regel wird Teil der Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten, Artikel 4)
- 1999: "Tue nichts, was du nicht möchtest, dass man dir tun soll." (British Humanist Society), Humanismus
- 2000: "Wir fordern jeden dazu auf, sich anderen gegenüber so zu verhalten, wie er von ihnen behandelt werden möchte." (Verhaltenscodex des Internet-Auktionshauses eBay)
[Bearbeiten] Kritik
Zu den Fehlinterpretationen der goldenen Regel zählt, dass sie mitunter als Vergeltungsprinzip betrachtet wird. Talion aber (Gleiches mit Gleichem vergelten) ist ein Reaktionsprinzip: das Objekt einer Handlung reagiert darauf mit gleichen Mitteln. Die goldene Regel hingegen versteht sich als vorausschauendes Aktionsprinzip: der Einzelne soll bewusst als Subjekt agieren, Provokation und Gewalt vermeiden und die bloße Vergeltung („Auge um Auge...“) durch positives Handeln oder Unterlassen überwinden.
Gegen die goldene Regel wird kritisch eingewandt, dass sie selbst bei gutem Willen fehlleiten kann, da die subjektive Sicht des Handelnden zum alleinigen Maßstab gemacht wird. Das, was er selbst wünscht, muss nicht unbedingt auch von seinem Nächsten erwünscht sein, und das, was ihm unangenehm ist, muss nicht auch für seinen Nächsten ähnlich unangenehm sein. Sowohl die positiven als auch die negativen Formulierungen können daher zu Taten oder Unterlassungen aufrufen, welche gegen die Wünsche des Betroffenen verstoßen. Daher sind aus dieser Sicht für eine tugendhafte Lebensweise bzw. die Integration in ein gerechtfertigtes ethisches System weitere ethische Prinzipien in Betracht zu ziehen. Nach christlicher Lehre ist dies zum Beispiel das Gebot der Nächstenliebe, dessen Implikationen besonders im Einzelfall aber unklar sind. Auch Einfühlungsvermögen hilft. In präferenzutilitaristischen Theorien (Singer) wurden diverse Präzisierungen und Modifikationen vorgeschlagen.
[Bearbeiten] Positive und negative Form
Zwischen den einzelnen Versionen sind leichte, aber relevante Unterschiede feststellbar. So sind die muslimische und Bahá'í-Variante wie auch die aus der Bergpredigt entnommene christliche positiv formuliert und fordern nicht nur das Nichttun dessen, was selbst nicht gewünscht wird, sondern auch das Tun dessen, was man selbst erstrebt. Damit werden diese Versionen von vielen als anspruchsvoller angesehen. Andere wiederum vermuten dahinter ein größeres Sendungsbewusstsein und den verdeckten Anspruch auf ein Wahrheitsmonopol, da vorausgesetzt wird, dass jeder weiß, was gut und richtig sei.
Die positive Form „Was du willst, was man dir tu, das füge auch dem andern zu“, eröffnet einen großen Spielraum und fordert zu aktivem Handeln gegenüber den anderen auf, kann den Einzelnen aber auch überfordern. Das erstrebenswert Gute wird subjektiv und also sehr unterschiedlich definiert. Aufgrund der Gegenseitigkeit ist der andere zwar in Übereinstimmung mit seinen moralisch legitimen Wünschen zu behandeln, auch diese Absicht kann aber vielfach zu Missverständnissen führen.
Die negative Form „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu“ fordert aktives Unterlassen ein: etwas ist bewusst nicht zu tun. Wer es vermeidet, andere zu schädigen oder ihnen einen fremden Willen aufzuzwingen, handelt demnach moralisch und achtet die persönliche Freiheit des anderen. Nur durch Achtung des Anderen ist somit angemessenes Zusammenleben möglich.
Eine Ausweitung der goldenen Regel und gleichzeitig eine Anerkennung als universelles Moralprinzip wird durch einen Bezug auf das Gemeinwohl hergestellt. Dies zwingt den Handelnden seine Aktionen grundsätzlich nach der Möglichkeit der Rückbezüglichkeit zu befragen; ein wesentliches Überprüfungskriterium ist demzufolge das der Allgemeingültigkeit: „Was wäre, wenn alle Betroffenen in dieser Situation so handelten“? Maßstab ist also nun das sittliche Handeln in und für die Gesellschaft, Verstöße gegen Sitte und Gesetz widersprechen diesem Anspruch. Diese Ausweitung der goldenen Regel kommt dem kategorischen Imperativ Kants bereits sehr nahe. Allerdings wird vereinzelt und mit unstrittenem Recht vorgebracht, dass die kantischen Versionen stärker rigoristische Pflichterfüllung anstatt individuelle Urteilsfindung betonen würden.
[Bearbeiten] Grundwert und Gesetzescharakter
Die goldene Regel ist in den Weltreligionen fest verankert. Daher wurde sie auch im Projekt Weltethos von Hans Küng und der „Erklärung zum Weltethos“ durch das Parlament der Weltreligionen von 1993 wichtig. Aus der goldenen Regel werden hier vier Prinzipien als „unverrückbare Weisungen“ entwickelt:
- Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben
- Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung
- Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit
- Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau
Darüber hinaus kennen einige juristische Systemen Entsprechungen zur goldenen Regel. So formuliert das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 2 (Handlungsfreiheit, Freiheit der Person): „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt [...]“ Die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit des Einzelnen hat also ihre Grenze dort, wo sie die Freiheit des anderen einschränkt.
Auch in der Straßenverkehrs-Ordnung (Deutschland) findet sich eine Entsprechung zur goldenen Regel: § 1. Grundregeln: "(1) Vorsicht und gegenseitige Rücksichtnahme. (2) Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird."
Nicht minder wird ein der goldenen Regel entsprechender Grundsatz immer wieder als wirtschaftsethische Grundforderung und firmeninterne Richtschnur formuliert. In den eBay-Grundsätzen [1] schlägt sich das bspw. in der 5. Forderung nieder: "Wir ermutigen Sie, andere so zu behandeln, wie Sie selbst behandelt werden möchten."
[Bearbeiten] Literatur
- Hans-Peter Mathys, Roman Heiligenthal, Heinz-Horst Schrey: Goldene Regel I. Judentum II. Neues Testament und frühes Christentum III. Historisch und ethisch. In: Theologische Realenzyklopädie 13 (1984), S. 570-583 (Überblick mit weiterer Lit.)
- K.O.Schmidt: Die Goldene Regel und das Gesetz der Fülle. Pfullingen 1965.
- Napoleon Hill, Die Gesetze des Erfolges 1989 - ISBN 3-81325-0096-5 - Kapitel 16, Titel der Amerikanischen Originalausgabe: "Laws of Success"