Anorexia nervosa
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Vergleichende Klassifikation nach | ||||
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ICD-10 | DSM IV | |||
F50.0 | Anorexia nervosa | 307.1 | Anorexia nervosa | |
F50.1 | atypische Anorexia nervosa | |||
ICD-10 online | DSM IV online |
Die Anorexia nervosa, auch Anorexia mentalis oder Magersucht genannt, ist eine psychische Störung aus dem Bereich der seelisch bedingten Essstörungen[1].
Inhaltsverzeichnis |
Überblick
Die Anorexia nervosa (griech./lat.: etwa „nervlich bedingte Appetitlosigkeit“) wurde erstmals 1873 von Ernest-Charles Lasègue und William Gull beschrieben, und ist somit die am längsten bekannte Essstörung.
Die meist jungen weiblichen Patienten leiden an einer Körperschemastörung, d.h. sie nehmen sich trotz eines bestehenden Untergewichts als „zu fett“ wahr. Anders als andere Menschen erlangen sie ihr Selbstwertgefühl nicht aus allgemeinen Leistungen in Beruf, Hobby oder Privatleben, sondern ausschließlich aus ihrem Gewicht bzw. der Fähigkeit, dieses kontrollieren zu können.
Die Anorexia nervosa ist mit einer geschätzten Prävalenz von 0,7 % unter weiblichen Teenagern zwar seltener als die Bulimie, zeigt jedoch einen deutlich ungünstigeren Verlauf, nicht selten mit schweren körperlichen Komplikationen. Die Erkrankung beginnt am häufigsten im Teenager-Alter, wobei eine Diät, die anschließend außer Kontrolle gerät, ein Einstieg sein kann. Die Krankheit kann jedoch auch bei Erwachsenen auftreten, oder bereits vor Eintritt der Pubertät. Nur einer von zwölf Erkrankten ist männlich[2].
In manchen Fällen dauert die Erkrankung nur kurz an und braucht keine oder nur eine kurzzeitige Behandlung. Andererseits kann der Krankheitsverlauf auch langwierig sein und spricht auf keine Therapie an. Obwohl die Anorexia nervosa in den meisten Fällen geheilt werden kann, sterben etwa 10 % letztendlich an den Folgen der Magersucht.[3]
Symptome
Das Kennzeichen der Anorexia nervosa ist die selbst herbeigeführte Gewichtsabnahme. Dies wird in der Regel durch vermindertes Essen erreicht, wobei besonders Nahrungsmittel, die als „fett-machend“ angesehen werden, weggelassen werden. Manchmal wird die Gewichtsabnahme unterstützt durch Missbrauch von Appetitzüglern, Laxantien oder Diuretika, selbst ausgelöstes Erbrechen oder exzessives Treiben von Sport.
Als Folge haben die zumeist weiblichen Patienten Untergewicht (messbar am Body Mass Index). Dadurch entstehen hormonelle Störungen: Bei Frauen äußert sich dies in einer Amenorrhoe (Achtung: Frauen, die die Anti-Baby-Pille nehmen, bekommen trotzdem eine regelmäßige Periode). Wenn der Krankheitsbeginn vor der Pubertät liegt, fehlt die Entwicklung der weiblichen Brust. Außerdem kommt es zu einem Stopp des Größenwachstums.
Auf psychischer Ebene sind die Gedanken der Betroffenen eingeengt und kreisen stets um die Themen Ernährung und Gewicht.
„Die anorektische Frau lehnt das Essen ab und beschäftigt sich doch mehr damit als die meisten Gourmets. [..] Sie lehnt ihren Körper ab, konzentriert sich jedoch in all ihrem Denken und Handeln auf ihn. [..] Sie will selbstständig und unabhängig sein, verhält sich jedoch so, dass ihre Interaktionspartner sie nahezu zwangsläufig kontrollieren.“
– Alexa Franke: Wege aus dem goldenen Käfig - Anorexie verstehen und behandeln.
Körperliche Folgen
Die Magersucht ist eine schwere, unter Umständen tödliche, körperliche Erkrankung. Die körperlichen Folgen werden hauptsächlich durch das extreme Untergewicht verursacht.
- Herz: verlangsamter Herzschlag, niedriger Blutdruck, EKG-Veränderungen (besonders: verlängertes QT-Intervall) und Herzrhythmusstörungen.
- Blut: Störungen der Elektrolyte (besonders gefährlich: Hypokaliämie), Hypoglykämie, verminderte Anzahl an Leukozyten und Thrombozyten
- Hormone: niedrige Konzentrationen von Geschlechtshormonen (LH, FSH, Östrogen), dadurch: Amenorrhoe, Unfruchtbarkeit, verringerte Libido, evtl. fehlendes Wachstum der Brust. Niedrige Konzentration von Schilddrüsenhormonen. Leicht erhöhte Konzentration von Glukokortikoiden.
- Knochen: Osteoporose mit erhöhtem Risiko einer Fraktur
- (falls häufiges Erbrechen) Zähne: Erosionen durch Magensäure, Karies
Die Patienten haben eine erhöhte Kälteempfindlichkeit, auch ihre Körpertemperatur kann erniedrigt sein. Weitere Symptome sind Schwindelgefühle und Ohnmachtsanfälle. Des Weiteren kann es zu einer Hauttrockenheit und zur Ausbildung einer Lanugobehaarung an Rücken, Armen und Gesicht kommen.
Bei einem Krankheitsbeginn vor der Pubertät kann es zu einem Stopp des Größenwachstums und zu einer fehlenden Entwicklung der weiblichen Brust kommen. Zu einer Amenorrhoe kommt es nur, wenn die Patientinnen keine Anti-Baby-Pille nehmen.
Etwa 10 % der Erkrankten sterben – entweder durch Komplikationen wie dem plötzlichen Herztod oder Infektionen, oder aber durch Suizid. Ein Teil der überlebenden Patienten leidet zeitlebens an chronischen Zuständen wie Osteoporose oder Niereninsuffizienz.
Diagnose
Die Diagnose ergibt sich aus einem ausführlichen diagnostischen Interview, das offen oder mit Hilfe von Checklisten erfolgen kann. Im Anschluss daran erfolgen weitere Tests, z.B. ein EKG und ein Bluttest, um körperliche Begleiterscheinungen des Untergewichts zu erfassen. Besteht der Verdacht, dass andere Ursachen das Untergewicht verursacht haben (siehe Differentialdiagnose), werden weitere Untersuchungen veranlasst.[4]
Die nachfolgenden Kriterien müssen für eine Diagnose erfüllt sein, wobei für Deutschland der ICD-10 entscheidend ist.
ICD-10-Diagnosekriterien für Anorexia nervosa | DSM-IV-Diagnosekriterien für Anorexia nervosa |
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Nach DSM-IV existieren zwei Unterkategorien der Anorexia Nervosa: 1. Anorexia nervosa vom restriktiver Typus: Sie zeichnet sich durch bloßes Verzichten auf Nahrung bzw. besonders hochkalorischer Nahrung aus. 2. Anorexia nervosa vom Purging Typus: Durch kompensatorische Verhaltensweisen, wie selbstinduziertes Erbrechen, Abführmittel oder Entwässerungsmittel wird der Kalorienaufnahme entgegengewirkt. Dabei ist ein deutlicher Gewichtsverlust zu beobachten. |
Krankheitsentstehung
Heute weiß man, dass für die Entstehung der Magersucht eine erbliche Komponente und verschiedenene Umweltfaktoren nötig sind. Generell tritt die Krankheit bei Frauen in westlichen Gesellschaften gehäuft auf.
Die Zwillingsforschung hat eindeutig eine familiäre Häufung der Erkrankung nachgewiesen, die genauen Gene konnten allerdings noch nicht gefunden werden. Die Forschung konzentriert sich zur Zeit besonders auf Gene, die im Zusammenhang mit dem Neurotransmitter-Systems von Serotonin stehen.
Hinzu kommen eine Reihe von individuellen Umweltfaktoren. Allgemein sind dies Erfahrungen, die die überwiegend jungen weiblichen Patienten besonders auf ihr Aussehen und Gewicht sensibilisieren. Dies können kritische Kommentare von Familie und Freunden über das Essverhalten, Gewicht, etc. sein. Der kulturelle Druck auf Frauen schlank zu sein gehört auch in diesen Zusammenhang (Schönheitsideal). Eine Diät ist daher häufig ein Einstieg in diese Erkrankung.
Ein ungünstiges Elternhaus („adverse parenting“) spielt ebenfalls eine Rolle, besonders schwerwiegend sind hierbei geringer Kontakt, hohe Erwartungen (Vermaschung) und Zwist zwischen den Elternteilen. Auch schwere psychische Traumatisierungen, wie z.B. sexueller Missbrauch in der Vorgeschichte, sind manchmal zu finden.
Ein schwaches Selbstbewusstsein und Perfektionismus sind Persönlichkeitszüge, die häufig schon vor Ausbruch der Erkrankung vorhanden sind.
Das Zusammenwirken all dieser Faktoren nennt sich „psychobiologisch-soziales Modell“ [5].
Therapie
Die Therapie umfasst neben einer Stabilisierung des Essverhaltens in der Regel psychotherapeutische Betreuung. Bei kritischem Untergewicht (bei einem BMI von 13 und weniger besteht akute Lebensgefahr) ist eine stationäre Behandlung in einem Krankenhaus mit einer parenteralen Ernährung notwendig, d.h. dass der Patient über einen venösen Zugang mit Nährstoffen/Elektrolyten versorgt wird. Diese Zwangsmaßnahme ist zur Lebenserhaltung ein wichtiges Mittel, doch ohne weiterführende psychotherapeutische Behandlung nicht dauerhaft wirksam.
Oft werden systemisch-familientherapeutische Behandlungen empfohlen, die problematische Interaktionen in der Familie der Betroffenen für die Störung als Auslöser und als aufrechterhaltender Faktor als ursächlich ansehen. In diesem Kontext erscheint der anorektische Patient als Symptomträger einer Familie und ist demnach nicht alleine behandlungsbedürftig. Ebenfalls kommen psychoanalytische Behandlungsansätze zum Einsatz. Diese sollen unbewusste Konflikte, die zur Entstehung des Symptoms geführt haben, bewusst machen und so eine weitere Reifung der Persönlichkeit ermöglichen.
Auch kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungen werden oft angewandt, die zum Ziel haben, die verzerrte Körperwahrnehmung der Patienten zu beeinflussen, die Einstellungen zum Essen zu verbessern und Wege für eine bessere Konfliktbewältigung sowie soziale Kompetenzen zu vermitteln.
Psychopharmakologische Therapien zeigten bisher aufgrund der fehlenden Krankheitseinsicht und der daraus resultierenden mangelnden Bereitschaft, an einer Therapie mitzuwirken (Compliance), keine positiven Effekte. Eventuell führen auch die Nebenwirkungen vieler Psychopharmaka, die oft mit Gewichtszunahme verbunden sind, zu einer mangelnden Compliance.
Differentialdiagnose
Zunächst ist die Anorexia nervosa von dem Symptom Anorexie abzugrenzen, das bei verschiedenen Erkrankungen auftreten kann.
Dann muss die Anorexia nervosa vor allem von anderen Essstörungen unterschieden werden. Hierbei ist die Bulimia nervosa von besonderer Bedeutung. Im Gegensatz zu bulimischen Patienten weisen Anorektiker beider Subtypen einen erheblichen, manchmal lebensbedrohlichen Gewichtsverlust auf, auch wenn die Anorexia nervosa vom Purging-Typus ähnliche Verhaltensweisen beinhaltet.
Die genaue Abgrenzung verschiedener Essstörungen voneinander ist nur im therapeutischen Kontext, im Rahmen einer aktuellen Therapie und deren momentaner Ziele sinnvoll, da oft beobachtet wird, dass Patienten während ihrer Entwicklung verschiedene Formen aufweisen. Oft findet man in der Vorgeschichte von Bulimikern eine Episode von Anorexia nervosa. Manchmal kommt es auch vor, dass Personen, die unter Adipositas litten, eine Anorexia nervosa oder Bulimie entwickeln oder umgekehrt.
Affektive Störungen wie Depressionen oder bipolare Störungen können auch zu erheblicher Gewichtsreduktion führen. Die Betroffenen weisen jedoch keine verzerrte Körperwahrnehmung auf.
Physiologische Störungen können ebenso zu Gewichtsverlust führen, beispielsweise ein Hirntumor oder Stoffwechselerkrankungen wie die Hyperthyreose.
Die Magersucht ist auch abzugrenzen von Fällen, bei denen Menschen freiwillig in den Hungerstreik treten, etwa in Gefängnissen oder als Form des politischen Widerstandes.
Magersucht in Kunst und Musik
- Daniel Johns, der Sänger der Gruppe Silverchair, verarbeitet seine Krankheit in dem Lied Ana's Song.
- Christina Aguilera verwendet in ihrem Video zum Lied Beautiful aus dem Album Stripped Bilder einer Magersüchtigen. Im Verlauf des Videos zerschlägt diese den Spiegel, in dem sie sich zuvor kritisch betrachtet hatte.
- Die Lieder Lucy At The Gym und Supermodel von Jill Sobule setzen sich mit Magersucht in verschiedenen Ausprägungen auseinander.
- Ein Hungerkünstler von Franz Kafka bearbeitet Magersucht nicht im eigentlichen Sinne, sondern eher als Allegorie.
- Die Sängerin Karen Carpenter starb 1983 infolge ihrer Anorexia nervosa. Die Krankheit, die bis dahin von der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert wurde, wurde dadurch erstmals im größeren Rahmen von den Medien wahr genommen.
- Die Black-Metal-Band Anorexia Nervosa trägt den Namen dieser psychischen Störung.
Siehe auch
Fußnoten
- ↑ Scharfetter: Allgemeine Psychopathologie (5. Auflage)
- ↑ Rupprecht, Hampel 2006
- ↑ Fairburn, Harrison 2003
- ↑ Rupprecht, Hampel 2006
- ↑ Rupprecht, Hampel 2006
Literatur
Fachliteratur
- Patricia Bourcillier: Magersucht & Androgynie. Steinhäuser Verlag, Wuppertal 1992, 352 Seiten, ISBN 3-924774-16-1.
- Joan Jacobs Brumberg: Todeshunger. Die Geschichte der Anorexia Nervosa vom Mittelalter bis heute, Beltz, Weinheim 1994, ISBN 3-593-35050-5
- Fairburn CG, Harrison PJ: Eating disorders. Lancet 2003 Feb 1;361(9355):407-16. PMID 12573387
- Alexa Franke: Wege aus dem goldenen Käfig - Anorexie verstehen und behandeln. Beltz, Weinheim 2003, ISBN 3-407-22143-6
- Rainer Rupprecht, Harald Hampel: Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie. Stuttgart 2006, ISBN 3-804-72053-6
- Lars Wöckel, Martin H. Schmidt: Magersucht, Bulimie und Adipositas. Wenn der Körper aus dem Gleichgewicht gerät. in: Biologie in unserer Zeit 32(6), S. 362-369 (2002).
Erfahrungsberichte und Belletristik
- Jessica Antonis: Hunger nach weniger. Roman einer Magersucht, Ueberreuter, Wien, 2001, ISBN 3-8000-2795-X
- Claire Beeken, Rosanna Greenstreet: Mein Körper mein Feind, Bastei-Lübbe, Bergisch-Gladbach, 1998, ISBN 3-404-61422-4
- Monika Gerlinghoff: Magersüchtig. Eine Therapeutin und Betroffene berichten, Beltz, Weinheim, 2001, ISBN 3-407-22833-3
- Kerstin Grether: Zuckerbabys, Ventil-Verlag, 2004, ISBN 3930559714
- Marya Hornbacher: Alice im Hungerland. Leben mit Bulimie und Magersucht, eine Autobiographie Ullstein, München, 2001, ISBN 3-548-36248-6
- Maureen Stewart: "Essen? Nein Danke" Roman für Jugendliche ab 13 Jahren, Ravensburger, ISBN 3-473-58086-4
- Yves Weber: Modekrankheit Magersucht. Der Weg zurück ins Leben. WiKu Verlag ISBN 3-86553-200-4 und WiKu Editions Paris EURL ISBN 2-84976-003-X
- Heidi Hassenmüller: "Majas Macht", Ellermann, ISBN 3-7707-3135-2
- Lena S.: Auf Stelzen gehen. Geschichte einer Magersucht. Bonn 2006
Weblinks
- Links zum Thema „Anorexie“ im Open Directory Project
- Informationen zu Magersucht von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung des Gesundheitsministeriums
- Informationen zu Therapiemöglichkeiten in Ö, aktuelle Studien, Forschungsergebnisse, Buchbesprechungen, besprochene deutschsprachige Internetlinks, Pro-ana-sites, Literaturhinweise
- Nachrichten und weitere Informationen zur Magersucht
- Informationen der Abteilung für Allgemeine Klinische und Psychosomatische Medizin der Medizinischen Universitätsklinik an der Universität Heidelberg
- Magersucht-Online – Informations- und Kommunikationsangebot des Hungrig-Online e.V.
- Anorexia nervosa - Magersucht beim Deutschen Grünen Kreuz für Gesundheit e.V.
- ANAD e.V. - Beratungsstelle und therapeutische Wohngruppen
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