Neokonservatismus
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Unter Neokonservatismus oder Neokonservativismus (von griechisch νέος [neos]: neu und lateinisch conservare: erhalten, bewahren) fasst man heterogene politische Strömungen zusammen, die sich neben einer Rückbesinnung auf konservative Werte, in Verbindung mit liberalen bzw. neoliberalen Konzepten in der Wirtschaftspolitik, scharfer Ablehnung der Politik der 68er-Generation und häufig auch durch Betonung einer gemeinsamen westlichen Zivilisation auszeichnen. Als Selbstbezeichnung wird der Begriff zwar kaum verwendet, die ideologisch-publizistische Resonanz ist dafür umso stärker.
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[Bearbeiten] Ziele und Funktionen
Zu den Zielen/Funktionen des Neokonservatismus rechnet man: die Stabilisierung von Werten wie Anpassungs- und Leistungsbereitschaft, Rationalität und Fortschritt in technischer Hinsicht, neue Verbindlichkeiten von Moral, eine Rechtfertigung sozialer Ungleichheiten über Leistungskonkurrenz, Absorbierung von Konflikten durch Systemdenken, Entpolitisierung einiger gesellschaftlicher Bereiche (Wirtschaft) durch funktionelle Systemdifferenzierung und so schließlich auch Verhinderung von Überlastungen des Staates (Unregierbarkeit). Der Unterschied zum Konservatismus besteht also insbesondere in dem Einbringen einer wirtschaftstheoretischen Alternative (Ordo-Liberalismus, Monetarismus) zum (interventionistischen) Keynesianismus, der auch zur Zurückweisung immer weitergehender sozialstaatlicher Steuerungs- und Veränderungsansprüche genutzt werden kann.
[Bearbeiten] Neokonservatismus in den USA
Die Wurzeln des Neokonservatismus reichen in den USA bis in die 1940er-Jahre zurück. Die neokonservative Bewegung entstand hier als Gegenströmung zur Sozialpolitik der demokratischen Partei (New Deal) in den 20ern und 30ern. In den 60ern wandten sich Neokonservative gegen das Konzept der Great Society, welches eine Verbesserung v.a. der diskrimienerten afroamerikanischen Bevölkerung vorsah (Civil Rights Act). Wegweisend für die neokonservative Ideologie ist (noch heute) Barry Goldwater (republikanischer Präsidentschaftskandidat), welcher sich in den 50ern und 60ern entschieden gegen eine sozialliberale Wirschaftsverfassung aussprach und auch Tendenzen gesellschaftlicher Integration entschieden bekämpfte. Goldwater trug mit seiner segregationistischen (gewisse Bevolkerungsgruppen ausschliessenden) Haltung wesentlich dazu bei, der republikanischen Partei in den Südstaaten den Weg zu ebnen. In den 1980er Jahren begann sie unter der Regierung von Ronald Reagan an politischer und gesellschaftlicher Definitionsmacht zu gewinnen, die sie bis heute ausbauen konnte. Prominente Beispiel für den Neokonservatismus in den USA und seinen Einfluss sind verschiedene, enge Berater von George W. Bush. Aber auch wenn sich die so genannten neocons überwiegend in der republikanischen Partei bemerkbar machen, gibt es gerade in überlappenden Parteisystemen (Mehrparteiensystem) wie dem der USA selten eindeutige Zuordnungen zwischen politischen Strömungen und Parteien. So fanden von Anfang an auch neokonservative Strömungen innerhalb der demokratischen Partei Gehör, die besonders in der Amtszeit von Bill Clinton wirkungsmächtig waren.
In den USA wurde der Neokonservatismus in so genannten Think Tanks theoretisch ausformuliert und durch Berufung einiger ihrer Protagonisten in die Regierung und Verwaltung unter George W. Bush bestimmend für dessen Außenpolitik. Im Gegensatz zu anderen republikanische Wählergruppen, wie die eher isolationistisch orientierten Evangelikalen (Christian Majority) und die libertären Konservativen (Beschränkung der Staatsaufgaben für niedrige Steuerlast) vertreten Neokonservative stärker eine militärisch-interventionistische Außenpolitik im 'Interesse' der USA, die sie auch bereit sind unilateral durchzusetzen ([siehe Ablehnung von Internationaler Strafgerichtshof, Kyoto-Protokoll). In der Innenpolitik werden stark verschärfte Sicherheitsmaßnahmen und Überwachung gefordert.
[Bearbeiten] Neokonservatismus in Europa
In Europa wurde der Begriff nie als Selbstbezeichnung genutzt. Er ist negativ besetzt und dient der Diffamierung einer politischen Positionen als zu konservativ. In diesem Sinne als neokonservativ bezeichnet wurden u.a. die Regierungen von Silvio Berlusconi (Italien), José María Aznar (Spanien) oder Anders Fogh Rasmussen in Dänemark sowie Politiker wie Nicolas Sarkozy in Frankreich.
[Bearbeiten] Neokonservatismus in Deutschland
In Deutschland ist eine Unterscheidung zwischen neokonservativen und konservativen Strömungen schwierig und ihr Sinn wird teilweise angezweifelt.
Nach den Erfahrungen im Dritten Reich und dem Beitrag nationalkonservativer Kreise zum Aufkommen der Nationalsozialisten, konnte der Konservatismus in Deutschland nach 1945 nicht als bruchlose Tradition fortgeführt werden. Daher kam es in Westdeutschland bereits in den 1950er Jahren zu einer Synthese von konservativen und ordo-liberalen Elementen (neben u.a. christlichen) innerhalb der christlich-demokratischen Parteien CDU und CSU (Ludwig Erhard, Freiburger Schule). Durch den wachsenden Rationalisierungsbedarf moderner Industriegesellschaften scheint die christliche, (sozialkonservative) Position zunehmend an Einfluss zu verlieren und durch ordo-liberale Ideen überlagert zu werden.
Die neokonservative Anknüpfung an den Ordo-Liberalismus erfolgt dabei unter Hinzufügung stärkerer staatlicher Interventionsmechanismen und Abschwächung der Wettbewerbskontrolle. In Deutschland wird von danach bezeichneten Neokonservativen u. a. mehr Eigenverantwortung, Rückbesinnung auf Sekundärtugenden und Familie, und eine verstärkte Elitenbildung für erforderlich gehalten. Als Vertreter neokonservativer Ideen werden, wenn auch nicht unbestritten, u. a. Intellektuelle wie Paul Nolte und Arnulf Baring genannt.
In den Rahmen der deutschen (Neo-)Konservatismusdebatte ordnen sich auch die so genannte geistig-moralische Wende von Helmut Kohl, die er zu Anfang seiner Amtszeit 1982/83 ausrief, und die Anfang 2006 publizistisch diskutierte Neue Bürgerlichkeit ein.
[Bearbeiten] Siehe auch
- Neokonservativismus in den USA
- Rechtskonservatismus
- Wertewandel
- Neue Bürgerlichkeit
- Denkfabrik
- Criticón
- Bettina Röhl
- Neue Rechte
- Backlash
- New Right
[Bearbeiten] Literatur
- Paul Nolte Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik, C. H. Beck, 2004
- Arnulf Baring, Es lebe die Republik, es lebe Deutschland!, DVA 1999
- Fetscher, Iring (Hg): Neokonservative und "Neue Rechte". München 1983.
- Leo Kofler: Der Konservativismus, VSA
- Melvin J. Lasky, Helga Hegewisch, Was heißt konservativ heute?, Beltz
- Michael Kessler, Wolfgang Graf Vitzthum, Jürgen Wertheimer (Hg.):Neonationalismus, Neokonservatismus
- Texte zur Kunst, Heft 55: Neokonservativismus, 2004 (Zu aktuellen deutschen neokonservativen Tendenzen in Kunst und Kultur)
- Helmut Dubiel, Was ist Neokonservatismus?, Suhrkamp, 1985
- Michael Minkenberg, Neokonservatismus und Neue Rechte in den USA, Nomos, 1990.
- Richard Saage, Neokonservatives Denken in der Bundesrepublik, in: ders., Rückkehr zum starken Staat?, Suhrkamp, 1983
- Martin Greifenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, Suhrkamp, 1986
- Axel Schildt, Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998
- Mommsen, Hans: Alternative zu Hitler. Studien zur Geschichte des deutschen Widerstandes, München 2000