Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien
aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (franz.: Tribunal pénal international pour l'ex-Yougoslavie, TPIY/engl.: International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, ICTY) mit Sitz in Den Haag ist ein durch Resolution 827 des UNO-Sicherheitsrats vom 25. Mai 1993 geschaffener Ad-hoc-Strafgerichtshof. Er ist zuständig für die Verfolgung von schweren Verbrechen, die ab 1991 auf dem Territorium des vormaligen Jugoslawien begangen wurden – während des Jugoslawien- bzw. des Kosovo-Krieges. Aktuelle Chefanklägerin ist die Schweizerin Carla del Ponte.
Verkürzend ist in den Medien häufig vom UN-Kriegsverbrechertribunal die Rede.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Mandat
Die Zuständigkeit des Strafgerichtshofs erstreckt sich auf die strafrechtliche Verfolgung von:
- Schweren Verletzungen der Genfer Konventionen
- Verstößen gegen die Gesetze oder Gebräuche des Krieges
- Völkermord
- Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Er kann lediglich Einzelpersonen, nicht aber Organisationen oder Regierungen anklagen und aburteilen. Prozesse können nur gegen persönlich Anwesende geführt werden, Angeklagte haben als Höchststrafe lebenslange Freiheitsstrafe zu erwarten. Der Strafvollzug erfolgt in einem der Staaten, die sich in Verträgen mit den Vereinten Nationen bereit erklärt haben, Verurteilte entgegenzunehmen.
[Bearbeiten] Organisationsaufbau
Der Strafgerichtshof besteht aus der Gerichtsverwaltung, zuständig auch für den Scheveninger Gefängnistrakt, in dem die Verdächtigten in Untersuchungshaft sitzen, einer Anklagebehörde sowie den Spruchkammern.
Der Anklagebehörde steht ein unabhängig arbeitender Chefankläger vor. Ernannt wird dieser – auf Vorschlag des UNO-Generalsekretärs – vom UNO-Sicherheitsrat. Derzeitige Chefanklägerin ist die Schweizerin Carla del Ponte, die 1999 der Kanadierin Louise Arbour gefolgt war. Davor hatte der Südafrikaner Richard Goldstone (1994-1996) diesen Posten inne – der ursprünglich als erster Chefankläger ausersehene Venezolaner Escovar-Salom hatte letztlich abgesagt.
Bis zur Umstrukturierung im September 2003 waren sie gleichzeitig auch Chefankläger des zweiten UN-Tribunals, des für die Verfolgung des Völkermords in Ruanda zuständigen ICTR.
Anklageschriften müssen von einem der Richter geprüft und bestätigt sein bevor sie wirksam werden.
Dem Gerichtshof gehören 16 von der UNO-Generalversammlung gewählte Richter an, die sich auf insgesamt vier Spruchkammern verteilen. Sie wählen aus ihren Reihen den Präsidenten des Strafgerichtshofes – derzeit der Italiener Fausto Pocar, der im November 2005 den US-Amerikaner Theodor Meron ablöste. Vor diesem hatten diese Position der Franzose Claude Jorda (1999-2002), die US-Amerikanerin Gabrielle Kirk-McDonald (1997-1999) sowie der Italiener Antonio Cassese (1993-1997) inne.
Stellvertretender Präsident ist derzeit der Australier Kevin Parker.
Neben den festen Richtern stehen jederzeit weitere 9 (aus einem Pool mit insgesamt 27 Richtern) zur temporären Verstärkung für einzelne Prozesse bereit. Drei der Kammern verhandeln in erster Instanz. Die vierte ist eine Berufungskammer; sie besteht aus fünf Richtern des ICTY und zweien des ICTR und übt diese Funktion für beide UN-Tribunale zugleich aus. Der jeweilige Präsident des Strafgerichtshofes ist zugleich auch Vorsitzender Richter der Berufungskammer.
[Bearbeiten] Die wichtigsten Angeklagten
Seitdem der Strafgerichtshof im Dezember 1994 seine Tätigkeit voll aufnehmen konnte, wurden richterlich bestätigte Anklageschriften gegen 161 Verdächtigte veröffentlicht, 133 davon fanden sich (zwangsweise oder freiwillig) beim Tribunal ein, 6 sind flüchtig, in den restlichen Fällen wurde die Anklage zurückgezogen.
Besonderes Interesse erregte der im Februar 2002 begonnene Prozess gegen Slobodan Milošević, Jugoslawiens sowie Serbiens ehemaligen Präsidenten, der im März 2006 noch während des Prozesses in Untersuchungshaft verstarb.
In den rechtsgültigen Urteilen des Strafgerichtshofes kam es zu 47 Schuld- und 6 Freisprüchen (Alle Angaben: Stand 6. Juli 2006; verlinkte Az führen zum entsprechenden Case Information Sheet des ICTY).
- Milan Babić (Urteil: 13 Jahre Haft; Suizid im März 2006; Fall IT-03-72)
- Tihomir Blaškić (Urteil: Erstinstanzlich 49 Jahre Haft; in der Berufung auf 9 Jahre reduziert; 2004 vorzeitig aus der Haft entlassen; Fall IT-95-14)
- Rasim Delić (auf Prozess wartend auf freiem Fuß; Fall IT-04-83)
- Ante Gotovina (Untersuchungshaft; Fall IT-01-45)
- Ramush Haradinaj (auf Prozess wartend auf freiem Fuß; Fall IT-04-84)
- Momčilo Krajišnik (Untersuchungshaft; Prozess seit Februar 2004; Fall IT-00-39&40)
- Sredoje Lukić (Untersuchungshaft; Fall IT-98-32)
- Milan Martić (Prozess seit Dez. 2005; Fall IT-98-32; siehe auch: Militäroperation Bljesak)
- Slobodan Milošević (März 2006 in Untersuchungshaft verstorben; Prozess lief seit Februar 2002; Fall IT-02-54)
- Mile Mrkšić (Untersuchungshaft; Prozess seit Okt. 2005; Fall IT-95-13/1)
- Naser Orić (Urteil: Orić wurde am 30. Juni 2006 schuldig gesprochen und zu zwei Jahren Haft verurteilt. Da er aber bereits über drei Jahre lang in Untersuchungshaft gesessen hatte, wurde er im Juli 2006 freigelassen; Fall IT-03-68)
- Biljana Plavšić (Urteil: 11 Jahre Haft; Fall IT-00-39&40/1)
- Miroslav Radić (Untersuchungshaft; Prozess seit Okt. 2005; Fall IT-95-13/1)
- Željko Ražnatović, besser bekannt als Arkan (im Januar 2000 ermordet; IT-97-27)
- Vojislav Šešelj (Untersuchungshaft; Fall IT-03-67)
- Veselin Šljivančanin (Untersuchungshaft; Prozess seit Okt. 2005; Fall IT-95-13/1)
- Jovica Stanišić (auf Prozess wartend auf freiem Fuß; Fall IT-03-69)
[Bearbeiten] Derzeit noch flüchtig
- Vlastimir Đorđević, ehemaliger Polizeigeneral im Kosovo (IT-03-70)
- Goran Hadžić, Mitbegründer und Präsident der selbsternannten Republik Serbische Krajina (IT-04-75)
- Radovan Karadžić, als Präsident der selbsternannten Republika Srpska politischer Führer der bosnischen Serben (IT-95-5/18)
- Ratko Mladić, militärischer Oberbefehlshaber der Armee der Republika Srpska (IT-95-5/18)
- Zdravko Tolimir, in Mladićs Stab verantwortlich für (militärisches) Nachrichtenwesen und (militärische) Sicherheit (IT-05-88)
- Stojan Župljanin, Chef der regionalen Sicherheitsdienste in Banja Luka (IT-99-36)
[Bearbeiten] Kritik
Dieser Artikel oder Abschnitt ist nicht oder unzureichend durch Quellenangaben (Literatur, Webseiten usw.) belegt worden, wodurch den fraglichen Inhalten eine Löschung droht. Bitte hilf der Wikipedia, indem du gute Belege für die Informationen nennst. |
[Bearbeiten] Kritik von Norman Paech
Stellvertretend sei hier Norman Paech, Professor für öffentliches Recht (Verfassungs- und Völkerrecht) in Hamburg, zitiert, der sich in einem Vortrag auf einer Tagung in Berlin am 2. März 2002 in Bezug auf den Milošević-Prozess wie folgt äußerte:
- „Gäbe es nicht eine weitgehende Vorverurteilung Milošević's in der europäischen Öffentlichkeit, würden die schwerwiegenden rechtsstaatlichen Defizite des Tribunals schon lange die Forderung nach Aussetzung des Verfahrens und Neugründung des Gerichts hervorgerufen haben. Der Verdacht ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass die NATO-Staaten den Prozess benutzen, um nachträglich die immer noch bestrittene Legitimation ihrer Bombardierung Jugoslawiens zu festigen. Ob unter diesen Umständen eine unanfechtbare Klärung der Tatbestände der Verbrechen unabhängig von der interessierten Propaganda der Tribunalmächte erwartet werden kann, ist sehr zweifelhaft.“ [1]
[Bearbeiten] Kritik von Kosta Čavoški
Kosta Čavoški, Professor für Völkerrecht an der Universität Belgrad, kritisiert unter anderem, dass das Tribunal völkerrechtswidrig gegründet worden sei. Es basiere auf einer großzügigen Interpretation des Kapitels VII der UN-Charta, in dem von „besonderen Maßnahmen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren oder wiederherzustellen“ die Rede ist. Die Errichtung von Ad-hoc-Strafgerichtshöfen für die Verfolgung von Verbrechen in souveränen Staaten als eine Maßnahme zur Sicherung des Weltfriedens sei in der Geschichte der UNO einzigartig und stehe in Widerspruch zum Geist der UN-Charta und demjenigen des Völkerrechts. Da das Völkerrecht kein universelles gesetzgebendes Organ kenne, sei der übliche und gemeinhin anerkannte Weg für die Etablierung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit der Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags, der von den Mitgliedsstaaten durch Ratifikation angenommen werden könne, wie etwa im Fall des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH). [2]
Čavoški kritisiert weiters, dass viele Angeklagte menschenrechtswidrig verhaftet und entführt worden seien. Die Entführung und Auslieferung des serbischen Präsidenten Slobodan Milošević sei verfassungswidrig erfolgt
Ein anderer Strang der Kritik behauptet zahlreiche Benachteiligungen serbischer Angeklagter gegenüber denjenigen anderer Nationalitäten. Während viele nichtserbische Angeklagte, wie zum Beispiel Naser Oric, mit verhältnismäßig geringen Haftstrafen davonkämen, würden serbische Angeklagte, wie zum Beispiel Biljana Plavšić, meist zu langen Haftstrafen verurteilt. Während sich auf nichtserbischer Seite meist verhältnismäßig unbedeutende Akteure vor Gericht wiederfänden, seien auf serbischer Seite überwiegend höhergestellte Militärs und Politiker angeklagt, darunter Ex-Staatspräsident Slobodan Milošević und Ex-Vizepremierminister Vojislav Šešelj. Die Anklageschriften gegen viele der Angeklagten seien während der Prozesse mehrmals geändert worden. Vojislav Šešelj warte seit nunmehr fast vier Jahren in Haft auf die Eröffnung seines Prozesses, was eine grobe Verletzung des Menschenrechts auf ein faires Verfahren innerhalb angemessener Frist darstelle. Hingegen wurde Ramush Haradinaj bis zur Eröffnung seines Prozesses freigelassen und durfte sich politisch betätigen. Da vor dem Tribunal großteils Serben angeklagt seien, werde dadurch ein falsches Bild einer überwiegenden Schuld Serbiens an den Jugoslawien-Kriegen legitimiert. [3]
[Bearbeiten] Kritik von Konstantinos D. Magliveras
Das Tribunal gestalte seine eigenen Regeln nach Belieben und unterstehe keiner unabhängigen Kontrolle. Da der Ankläger ein Organ des Tribunals sei, komme ihm eine dominierende Stellung im Verfahren zu, wodurch das vielerorts strafprozessrechtlich zugesicherte Prinzip der Gleichheit von Anklage und Verteidigung missachtet werde. Die Rolle des Anklägers erinnere an die Gerichtsbarkeit osmanischer Kadis, die in Serbien gleichzeitig als Ankläger und Richter auftraten. Darüber hinaus sei die Verteidigung in vielerlei Hinsicht benachteiligt: Das Gericht könne der Verteidigung den Zugriff auf Beweismittel verweigern, wenn es der Meinung ist, dass deren Preisgabe geeignet sei, ein öffentliches Interesse oder dasjenige eines Staates zu verletzen. Es könne Teile der Anklage geheimhalten und illegal ermittelte Informationen gegen den Angeklagten verwenden. Dies diene vor allem dazu, die Enthüllung rechtswidrig ermittelter geheimdienstlicher Informationen zu verhindern. Das Gericht könne außerdem die Öffentlichkeit von Verhandlungen ausschließen, wenn dies „zum Schutz von Interessen der Gerechtigkeit“ erforderlich sei, was eine Blankonorm darstelle.
Aussagen von Zeugen, deren Identität vom Gericht geheimgehalten wird, seien als Beweismittel zulässig. Der Verteidigung entgehe dadurch die Möglichkeit, die Glaubwürdigkeit derartiger Zeugen zu überprüfen. Das erinnere an die Praxis mittelalterlicher Inquisitionsgerichte, die Zeugen vermummt auftreten ließen, um sie vor dem bösen Blick angeklagter Hexen zu beschützen. Sie sei unter anderem eine Folge davon, dass das Gericht nicht in der Lage sei, seine Zeugen wirksam zu beschützen, weil es eine Gerichtsbarkeit ohne Souveränität ausübe.
[Bearbeiten] Kritik von Paolo Benvenuti
Des weiteren wird kritisiert, dass sich das Tribunal nur für Verbrechen interessiere, die von Tätern ehemals jugoslawischer Nationalität verübt worden seien, während Hinweisen auf Kriegsverbrechen von NATO-Mitgliedsstaaten nicht nachgegangen werde [4]. Dies stehe in Widerspruch zu dem in der UN-Resolution 808 [5] verbrieften Auftrag des Tribunals, alle Verletzungen humanitären Völkerrechts und der Genfer Konventionen im ehemaligen Jugoslawien zu verfolgen. [6]
[Bearbeiten] Kritik von Marko Milošević
Marko Milošević, der Sohn von Slobodan Milošević, wirft dem Tribunal vor, dass es Milošević mit der Vorenthaltung notwendiger medizinischer Behandlung vorsätzlich getötet habe [7]. Unter Experten sind die Effektivität und Angemessenheit der medizinischen Behandlung Miloševićs in Den Haag umstritten [8].
[Bearbeiten] Stellungnahme des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
Dagegen entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 4. Mai 2000 im Fall Naletilic gegen Kroatien, dass das Jugoslawien-Tribunal ein internationales Gericht sei, das in Anbetracht des Inhalts seines Statuts und seiner Prozessordnung alle notwendigen Sicherheiten für einen fairen Prozes biete, einschließlich derjenigen der Unbefangenheit und Unabhängigkeit (in view of the content of its Statute and Rules of Procedure, offers all the necessary guarantees including those of impartiality and independence) [9]. Die EGMR-Entscheidung ist unter einigen Experten umstritten: Während es in vielen Staaten trotz gegenteiliger Rechtsvorschriften zu Menschenrechtsverletzungen komme, soll dies nach Auffassung des EGMR beim ICTY ausgeschlossen sein. Daraus ließe sich schlussfolgern, dass Menschenrechtsverletzungen durch UN-Tribunale nach europäischem Rechtsverständnis grundsätzlich unmöglich seien, und der EGMR es folglich aus Prinzip ablehne, sich mit derartigen Beschwerden auseinanderzusetzen. [10]
[Bearbeiten] Siehe auch
[Bearbeiten] Literatur
- Slavenka Drakulić: Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht. Paul Zsolnay Verlag Wien 2004 ISBN 3552052909 (Kapitel Triumph des Bösen und Die Wandlung der Biljana Plavšić online bei eurozine.com)
[Bearbeiten] Quellen
- ↑ Norman Paech: Sinn und Missbrauch internationaler Gerichtsbarkeit, AG Friedensforschung an der Uni Kassel
- ↑ Kosta Čavoški: The Hague against Justice, Center for Serbian Studies, Belgrade 1996
- ↑ Kosta Čavoški: The Hague Against Justice Revisited, Center for Serbian Studies, Belgrade 1997
- ↑ Paolo Benvenuti: The ICTY Prosecutor and the Review of the NATO Bombing Campaign against the Federal Republic of Yugoslavia, EJIL (2001) Vol. 12 No. 3, 503-529
- ↑ UN Resolution 808
- ↑ Avner Gidron & Claudio Cordone: Faut-il juger l'OTAN? Le Monde Diplomatique, Juli 2000
- ↑ Miloševićs Sohn beschuldigt UNO-Tribunal wegen Tod des Vaters, Der Standard, 21. August 2006
- ↑ Jonathan Widell, Dr Patrick Barriot and Jacques Vergès: Moscow Calling. Why Milošević was never trated in Russia? serbianna.com, 25. August 2006
- ↑ European Court of Human Rights, Decision as to the Admissibility of Application no. 51891/99 by Mladen Naletilić against Croatia, 4. Mai 2000
- ↑ Caroline Buisman, Self-governed International Criminal Tribunals: Are they in need of a Constitutional Court?, Socio-Legal Studies Association (SLSA) Conference 2001
[Bearbeiten] Weblinks
- Offizielle Webpräsenz des ICTY (engl./franz.)
- Key Figures of ICTY Cases
- Gefängnis Fotos, Videos
- Übersicht über ICTY und ICTR des Auswärtigen Amts
- Resolution 827
- Statut des ICTY (PDF; 34 kB)