Silvio Gesell
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Johann Silvio Gesell (* 17. März 1862 in Sankt Vith (heute Belgien); † 11. März 1930 in der Obstbau - Genossenschaft Eden bei Oranienburg) war Kaufmann, Finanztheoretiker, Sozialreformer und Begründer der Freiwirtschaftslehre.
Inhaltsverzeichnis |
Leben
Silvio Gesells Mutter war Wallonin, sein Vater stammte aus Aachen und war preußischer Kreissekretär des Kreises Malmedy, der damals zum Deutschen Reich gehörte. Silvio Gesell war das siebte Kind unter neun Geschwistern.
Nach dem Besuch der Bürgerschule in Sankt Vith wechselte Gesell zum Gymnasium in Malmedy. Er musste schon früh für seinen Lebensunterhalt sorgen, verzichtete deshalb auf ein Studium und trat in den Dienst der deutschen Reichspost ein. Die Beamtenlaufbahn lag ihm jedoch nicht. Er beschloss, bei seinen älteren Brüdern in Berlin den Beruf eines Kaufmanns zu erlernen. Danach lebte er zwei Jahre als Korrespondent in Málaga (Spanien). Widerwillig kehrte er nach Berlin zurück, um den Militärdienst abzuleisten. Anschließend arbeitete er als kaufmännischer Angestellter in Braunschweig und Hamburg.
1887 ging Gesell nach Buenos Aires (Argentinien), wo er sich selbständig machte und eine Filiale des Berliner Geschäfts eröffnete. Die heftigen Wirtschaftskrisen des Landes, die seine Geschäftstätigkeit stark beeinflussten, regten ihn zum Nachdenken über die strukturelle Problematik des Geldwesens an. 1891 veröffentlichte Gesell seine erste währungstheoretische Schrift: Die Reformation des Münzwesens als Brücke zum sozialen Staat. Es folgten Nervus rerum und Die Verstaatlichung des Geldes. Nachdem er 1890 sein argentinisches Geschäft seinem Bruder übereignet hatte, kehrte er 1892 nach Europa zurück.
Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Deutschland ließ sich Gesell in Les Hauts-Geneveys im Kanton Neuenburg in der Schweiz nieder, wo er einen Bauernhof erworben hatte. Neben seiner Arbeit in der Landwirtschaft widmete er sich weiterhin volkswirtschaftlichen Studien und der Schriftstellerei. Der von ihm 1900 gegründeten Zeitschrift Die Geld- und Bodenreform war allerdings kein großer Erfolg beschieden; sie musste aus finanziellen Gründen bereits 1903 wieder eingestellt werden.
Von 1907 bis 1911 lebte Gesell wieder in Argentinien. Danach übersiedelte er nach Deutschland und wählte als Wohnsitz die vegetarisch ausgerichtete, von Franz Oppenheimer mitbegründete Obstbaugenossenschaft Eden in Oranienburg im Norden Berlins. Hier gründete er gemeinsam mit Georg Blumenthal die Zeitschrift Der Physiokrat. Im März 1916, während des Ersten Weltkriegs, wurde sie von der Kriegszensur endgültig verboten.
Danach verließ Gesell 1916 Deutschland und begab sich wieder auf seinen Bauernhof in der Schweiz. Im April 1919 wurde er von Ernst Niekisch in die Revolutionsregierung der Münchner Räterepublik nach München gerufen. Diese bot ihm zunächst einen Sitz in der sogenannten Sozialisierungskommission an und ernannte ihn kurze Zeit später zu ihrem „Volksbeauftragten für Finanzen“ mit Sitz in München. In dieser Zeit arbeitete er mit dem Jura-Professor Karl Polenske von der Universität Greifswald sowie mit dem schweizerischen Arzt und Mathematiker Dr. Theophil Christen zusammen. Seine Amtszeit dauerte allerdings nur sieben Tage. Nach dem blutigen Ende der Räterepublik wurde Gesell nach mehrmonatiger ungesunder Haft in einem Hochverratsprozess vor einem Münchner Standgericht aufgrund seiner Selbstverteidigungsrede freigesprochen. Die Prozesskosten gingen zu Lasten der Staatskasse. Wegen seiner Beteiligung an der Münchner Räterepublik wurde ihm aber von den Schweizer Behörden die Rückkehr auf seinen Bauernhof verweigert.
Daraufhin zog sich Gesell zunächst nach Rehbrücke bei Berlin, später wieder nach Oranienburg-Eden zurück. 1924 folgte nochmals ein Aufenthalt in Argentinien. Ab 1927 wohnte er wieder in Eden, wo er am 11. März 1930 einer Lungenentzündung erlag und einige Tage später im kleinen Kreis beigesetzt wurde.
Silvio Gesell war verheiratet mit Anna, geb. Böttger und hatte mit ihr die Kinder Fridolin, Anita, Don Carlos Idaho und Johanna, genannt "Tutti". Aus seiner Verbindung mit Jenny Blumenthal, geb. Führer, ging 1915 Hans-Joachim Führer hervor. Weitere Beziehungen hatte Gesell mit Wanda Tomys und Grete Siermann.
Durch sein Geschäft hatte Gesell ein gewisses Vermögen erworben, mit dem er so zu disponieren vermochte, dass die Krisen ihm nicht in größerem Umfang schadeten. Außerdem wurde er von Freunden unterstützt, besonders von Paul Klemm in Siebenbürgen/Rumänien, einem wohlhabenden Holzfabrikanten, der zuweilen die Druckkosten für Gesells Veröffentlichungen, u. a. für die NWO 1920, bezahlte.
Die Entdeckung der Notwendigkeit einer der Natur und dem Menschen gemäßen Geldordnung gab dem Leben Gesells eine entscheidende Wende. Er wurde zum Sozialreformer. Seine Erkenntnisse verbreitete er durch eine Fülle von Broschüren, Büchern, Aufsätzen und Vorträgen in deutscher und spanischer Sprache. 1916 erschien sein Hauptwerk Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld, das seither zehn Auflagen und zahlreiche Übersetzungen erlebte. Gesell, ohne Hochschulbildung, hat seine Erkenntnisse aus praktischen Erfahrungen und Beobachtungen als Geschäftsmann gewonnen, ergänzt durch das Studium wirtschaftlicher Literatur (Pierre Joseph Proudhon, Karl Marx, Henry George u. a.). Dementsprechend sind seine Bücher und Schriften in anschaulicher Sprache geschrieben und praxisbezogen.
Nach Silvio Gesell ist das argentinische Seebad Villa Gesell am Atlantischen Ozean benannt, das sein Sohn Carlos nördlich von Mar del Plata gegründet hatte und das über 20.000 ständige Einwohner zählt.
Gesinnung
Silvio Gesell war ethischer Vegetarier, der aus Achtung vor Tieren das Fleischessen ablehnte. Er vertrat eine weltbürgerliche Gesinnung. Nach seiner Überzeugung sollte die Erde allen Menschen gleichermaßen gehören, ohne Unterschied von Rasse, Geschlecht, Stand, Vermögen, Religion, Alter oder Leistungsfähigkeit. Landesgrenzen müssten überflüssig werden.
Gesell baute seine volkswirtschaftlichen Überlegungen auf den Eigennutz des Menschen als gesundem, natürlichem Antrieb, der es ihm erlaube, seine Bedürfnisse zu verfolgen und wirtschaftlich tätig zu sein. Dieser Gegebenheit müsse auch eine Wirtschaftsordnung gerecht werden, sonst sei sie zum Scheitern verurteilt. Deshalb nannte Gesell die von ihm entworfene Wirtschaftsordnung „natürlich“. Mit dieser Haltung stellte er sich bewusst in Gegensatz zu Karl Marx, der eine Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse forderte.
In Berücksichtigung des Eigennutzes trat Gesell ein für freien, fairen Wettbewerb mit gleichen Chancen für alle. Dazu gehörte für ihn der Abbau aller ererbten und gesetzlichen Vorrechte. Jeder sollte sich allein auf seine persönlichen Fähigkeiten abstützen müssen, damit aber auch sein Auskommen finden können. In der von ihm angestrebten „natürlichen Wirtschaftsordnung“ würde der freie Wettbewerb den Begabtesten gerechterweise das höchste Einkommen sichern, ohne Verfälschung durch Zins und Bodenrente. Ebenso würde sie den weniger Befähigten ein ausreichendes Auskommen gewähren, weil ihnen keine Abgaben für Zins und Bodenrente auferlegt sein würden. Ein gerechter Ausgleich von Arm und Reich wäre möglich. Daneben würden für die Unterstützung von Bedürftigen genügend Mittel zur Verfügung stehen, weil es das erhöhte Durchschnittseinkommen jedem erlauben würde, für sie das Nötige aufzuwenden.
Beobachtungen in Argentinien
Während die Industrialisierung in Europa zu jener Zeit bereits voll entwickelt war, behinderte die spanische Kolonialmacht eine eigenständige Entwicklung Argentiniens. Die spanische Regierung war nur an den berühmten Silbervorkommen interessiert (daher „Argentinien“ von lateinisch argentum = Silber), nicht jedoch an einer eigenständigen Entwicklung von Landwirtschaft, Handel und Gewerbe. Dies hätte Spanien zu wichtigen Importen aus der eigenen Kolonie genötigt.
Nach dem Sturz des Diktators Juan Manuel de Rosas trat 1853 eine liberale Verfassung in Kraft, die das Land auch für Einwanderer öffnete. Die Wirtschaft begann zu blühen, Schafwolle wurde zum wichtigsten Exportartikel. Ein Rückgang der Weltkonjunktur Mitte der 1870er Jahre und die Einführung einer mit Gold gedeckten Währung führte um 1890 zu einer Wirtschaftskrise. Die exportorientierte Wirtschaft wurde durch die Golddeckungsvorschriften gefesselt. Es entwickelten sich die typischen Zeichen einer deflationären Abwärtsspirale: Abnehmende Geldmenge —> Sinkende Löhne —> Geldhortung (Konsumrückgang) —> Warenstau —> Firmenpleiten —> Entlassungen —> Massenarbeitslosigkeit.
Der Versuch, durch Ausweitung der Geldmenge mit einer Inflation zwecks allgemeiner Preiserhöhung gegenzusteuern, scheiterte, weil die Menschen das neue Geld aus Zukunftsangst erneut horteten. Das Warenangebot blieb überhöht, die Preise sanken wieder schnell auf das alte Niveau. Langfristige Preiserhöhungen hätten das Sparen unattraktiver gemacht, dadurch die Menschen zu mehr Konsum getrieben, und die heimische Wirtschaft wieder angekurbelt.
Einsichten und Folgerungen
Unter dem Einfluss der wirtschaftlichen Krisen Argentiniens auf die eigene Geschäftstätigkeit erfasste Gesell die hohe Bedeutung einer gleichmäßigen Umlaufgeschwindigkeit des Geldes für eine krisenfreie Wirtschaft. Gesell schlussfolgerte, dass Geld der Wirtschaft nur als Tauschmittel dienen, sie aber nicht als Hortungsmittel lähmen darf.
Alles in der Natur unterliegt – so wurde ihm klar – dem rhythmischen Wechsel von Werden und Vergehen, nur das Geld scheint der Vergänglichkeit alles Irdischen entzogen. Da das Geld im Gegensatz zu Waren und menschlicher Arbeitskraft weder „rostet“ noch „verdirbt“, kann ein Geldbesitzer sein Geld nach Gesells Auffassung ohne Nachteil zurückhalten, „horten“. Er kann warten, bis die Waren für ihn billig oder die Zinsen hoch genug sind. Mit dem Zuwarten stört er den Wirtschaftskreislauf. Händler werden gezwungen, ihre Preise zu senken. In der Folge müssen sie ihre Kosten durch Kredite decken. Diesen Bedarf lässt sich der Geldbesitzer nach Gesells Vorstellungen durch den Zins belohnen, ein Einkommen, für das er keine Leistung erbringt. Die Zinseinnahme verleiht er erneut, so dass seine Zinseinnahmen ständig wachsen (Zinseszins). So werden nach Gesell „leistungslos“ Reichtümer dort angehäuft, wo sie nicht benötigt werden. Im Gegenzug dazu wird der arbeitenden Bevölkerung der ihr zustehende volle Arbeitsertrag vorenthalten.
Durch die Marktüberlegenheit des Geldbesitzers sah Gesell das freie Kräftespiel zwischen Verkäufer und Käufer grundlegend gestört. Daraus zog er den Schluss, Geld solle in seinem Wesen der Natur entsprechen und natürlichen Dingen nachgebildet sein. Das Geld in der Hand eines Geldbesitzers müsse wie menschliche Arbeitskraft und Waren mit der Zeit an Wert einbüßen, dann habe er auf dem Markt keine Vormachtstellung mehr. Geld wäre einem ständigen Weitergabedruck unterstellt. Jeder Geldbesitzer würde sein Geld nicht zu lange zurückhalten, sondern damit Waren oder Dienstleistungen kaufen, laufende Rechnungen bezahlen oder es ohne Zinsforderung verleihen, um so der Wertminderung zu entgehen. So wirke Geld als Diener des Menschen und nicht als dessen Herrscher.
Dieses Geld nannte Gesell „Freigeld“. Die Ausgabe des Freigeldes soll dem Staat vorbehalten sein, der hiefür ein Währungsamt einzurichten hat. Bei Inflationsgefahr soll das Währungsamt Freigeld einziehen, bei Deflationsgefahr solches ausgeben. Mit ihm wäre die schädliche risikofreie Hortungsfähigkeit des Geldes überwunden. Zur Verwirklichung seiner Idee schlug er den Wechsel vom damals noch vorherrschenden Münzgeld zu Papiergeld vor, an dem sich die erforderlichen Vermerke über Wertminderung oder Gültigkeitsverfall eines Geldscheins vornehmen lassen. Wegen seiner Wertminderung würde Freigeld auch bei sinkenden Preisen (Deflation) und niedrigen Zinssätzen nicht gehortet werden. Gesell glaubte, auf diese Weise käme es zu einem starken und dauerhaften Kapitalangebot für die Wirtschaft. Er wollte so „den Zins in einem Meer von Kapital ersäufen“, wie er sich ausdrückte. Durch seinen gesicherten Umlauf würde Freigeld der Wirtschaft Krisen ersparen und durch das Absinken des allgemeinen Zinsniveaus zugleich die soziale Frage lösen.
Nähere Informationen: Siehe „Freigeld“
Stabiles Geld - stabile Wirtschaft
Oberstes Ziel Gesells war eine Wirtschaft ohne störende Konjunkturschwankungen und eine gerechte soziale Ordnung. Im Hinblick darauf forderte Silvio Gesell auch einen stabilen Geldwert, verbunden mit freien Wechselkursen und Aufhebung der Golddeckung. Dies bedeutet die Lösung der Geldmenge von den Goldvorräten der Zentralbanken wie auch die Aufhebung ihrer Einlösungspflicht von Geld gegen Gold.
Erst durch den durch Freigeld gesicherten stetigen Geldumlauf würde es möglich werden, die Menge des Geldes so zu dosieren, dass seine Kaufkraft und damit auch die Preise stabil bleiben. Der Zentralbank, in Deutschland damals die Reichsbank, sollte das Recht zur Ausgabe von Banknoten entzogen und einem unabhängigen Währungsamt übertragen werden. Zum Steuern der Geldmenge würden ihm lediglich eine Druckerpresse zum Druck von Banknoten bei Geldmangel und ein Ofen zum Verbrennen derselben bei Geldüberschuss genügen. Es würde keine massiven Schwankungen in der Wirtschaft und keine störenden Deflationen und Inflationen mehr geben. Auch die sozialen Unruhen durch hohe Arbeitslosigkeit würden, laut Gesell, dauerhaft beseitigt.
In Ergänzung zu flexiblen Wechselkursen schlug Gesell auch die Bildung einer internationalen Zahlungsvereinigung (Internationale Valuta-Assoziation, IVA) und die Einführung einer internationalen Währung mit Umlaufsicherung vor. Damit wollte er den internationalen Zahlungsverkehr erleichtern und ihn von bestehenden Länderwährungen unabhängig machen.
Urzins
Bei seinen Untersuchungen entdeckte Gesell einen allen Zinsforderungen zugrunde liegenden Zinsanteil, den er Urzins nannte, ein Mehrwert des Geldes. Den Urzins begründete Gesell ebenfalls mit der Überlegenheit des Geldes über Arbeitskraft und Waren. Er sei eine unvermeidliche Begleiterscheinung einer Wirtschaft mit Geldgebrauch. Der Urzins sei es, der dem Geldbesitzer als Kreditgeber (Gläubiger) einen leistungslos zufallenden Anteil am Arbeitsertrag seines Kreditnehmers (Schuldners) und seiner Kunden zuführe und dadurch zu großer sozialer Ungerechtigkeit führe. Unter den Urzins sei über Jahrhunderte hinweg kein Zins je gesunken. Seine Höhe gab er mit zwei bis drei Prozent an.
Alle Zinsforderungen sah Gesell als Summe aus Urzins, Inflationsausgleich und Risikoanteil. Dazu komme, solange die Wirtschaft wächst, ein produktionsbedingter Wachstumsanteil, den er Darlehenszins auf Sachgütern nannte. Schließlich fordere die Bank für Kreditvermittlung ein Vermittlerentgelt. Damit setze sich Zins aus fünf Anteilen zusammen, auch wenn sie in der Praxis nicht einzeln ausgehandelt würden.
Könne die Überlegenheit des Geldes auf dem Markt durch die Einführung von Freigeld beseitigt werden, so würde sich nach Gesell der Urzins auf null abbauen und aus sämtlichen Zinsarten verschwinden. Weil durch Freigeld zugleich Inflation und Deflation weitgehend überwunden werden könnten, würde automatisch auch der Inflationsausgleich im Zins wegfallen. Weiterhin ergäben sich aus einem stabileren Wirtschaftsverlauf geringere Kreditrisiken, so dass auch der Risikoanteil im Zins zurückgehen würde. Ohne Wirtschaftswachstum würde schließlich noch der Wachstumsanteil wegfallen, so dass praktisch von einem Nullzins gesprochen werden könnte. Das Schrumpfen der Zinshöhe würde zu einer bedeutenden allgemeinen Entlastung der Wirtschaft und der Bevölkerung eines Landes von Zinskosten führen. Auf der anderen Seite wäre das Anhäufen leistungslos erworbenen Reichtums aus Zinseinnahmen nicht mehr möglich. Stattdessen ergäbe sich ein grundsätzlich größerer Wohlstand der arbeitenden Bevölkerung und eine weitgehende Lösung der sozialen Frage. Dies würde sich zum Beispiel – bei gleich bleibenden Löhnen – in einer Senkung des Preisniveaus auswirken, weil alle Preise stets versteckte Zinsanteile enthalten.
Mit der Erklärung des Zinsproblems aus dem Urzins als Erscheinung einer Geldwirtschaft stellte sich Silvio Gesell in Gegensatz zu Karl Marx, der den Zins aus den Produktionsverhältnissen der Wirtschaft erklärte. Es entging Gesell jedoch, dass auch sein Darlehenszins ein produktionsbedingter Zinsanteil ist, ein Mehrwert des produktiven Kapitals. Er glaubte, der Darlehenszins könne nach Einführung des Freigeldes völlig zum Verschwinden gebracht werden, weil schließlich das Angebot von Krediten die Nachfrage danach übersteigen und dadurch der Darlehenszins zu null werden würde. Er verkannte, dass stets neuartige Investitionsbedürfnisse auftreten, die zu neuer Kreditnachfrage führen.
Bodenreform
Gesell erkannte auch im Bereich des Bodenrechts die Möglichkeit, leistungslose Einkommen zu beziehen. Diese besteht für die Bodeneigentümer darin, von ihren Pächtern und Mietern Bodenrente zu verlangen. Darüber hinaus würden Großgeldbesitzer, denen leistungslose Einkommen aus Zinsen nach der Einführung von Freigeld beschnitten sein würden, auf den Aufkauf von Grundstücken ausweichen. Dadurch würden die Grundstückspreise in unermessliche Höhen klettern, sehr zum Nachteil aller Übrigen, weil jeder Mensch zum Leben und Arbeiten auf Boden angewiesen ist.
Um auch hier Abhilfe zu schaffen, forderte Gesell, den Boden gegen Entschädigung in öffentliches Eigentum zu überführen, ihn zugleich aber seinen bisherigen Eigentümern gegen Entrichtung einer ständig wiederkehrenden Nutzungsabgabe an den Staat weiterhin zur Nutzung zu überlassen. Die darauf errichteten Gebäude und sonstigen Einrichtungen blieben hingegen weiterhin Privateigentum. Damit würde die Bodenrente der Allgemeinheit zufließen. Handel und Spekulation mit Boden wären unmöglich. Die Höhe der Abgabe sollte für jedes Grundstück gesondert in einem Meistbietungsverfahren ermittelt und von Zeit zu Zeit veränderten Verhältnissen angepasst werden. Solchen Boden nannte Gesell „Freiland“.
Bei diesen Überlegungen ging Gesell davon aus, dass Boden ein Produkt der Natur und nicht des Menschen ist. Die Erde sollte allen Menschen gleichermaßen gehören. Deshalb durfte es für Gesell an Boden kein privates Eigentum geben, im Gegensatz zu den darauf bestehenden Einrichtungen. Eigentum an Boden sollte allein dem Staat zustehen.
Die Einkünfte des Staates aus den laufenden Bodennutzungsabgaben wollte Gesell in voller Höhe als Mutterrente an die Mütter verteilt haben gemäß der Zahl ihrer Kinder. Gesell glaubte, der Wert des Bodens und damit die Bodenrente stiegen mit zunehmender Zahl der Bewohner eines Landes und damit zunehmender Nachfrage nach Boden. Mit der Mutterrente verfolgte Gesell das Ziel, Frauen von Männern wirtschaftlich unabhängig zu machen, damit sie aus Liebe und nicht um der Versorgung willen einen Mann heiraten.
Zusammen mit dem Wegfall des Urzinses sollte der Wegfall der Bodenrente den Arbeitenden das Recht auf den vollen Arbeitsertrag sichern.
Bedeutung Silvio Gesells
Es war Gesell nicht vergönnt, zwei Jahre nach seinem Tod (1930) einige Aktionen mit dem von ihm vorgeschlagenen Freigeld noch zu erleben. Aktionen gab es in Schwanenkirchen im Bayerischen Wald und in Wörgl in Tirol/Österreich. Auch die auf der Insel Norderney durchgeführte WÄRA-Freigeldaktion gehört in diese Reihe. Diese Aktionen konnten die schlimmen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre für die Teilnehmer spürbar mildern. Das Interesse daran war groß. Aus Frankreich reiste der Finanzminister und spätere Ministerpräsident Édouard Daladier nach Wörgl, und in den USA schlug der Volkswirtschaftler Irving Fisher der amerikanischen Regierung – wenn auch vergeblich – vor, ein Wörgl-ähnliches Geld mit Namen Stamp Scrip zur Überwindung der Wirtschaftskrise einzuführen. Da die Ausgabe von geldähnlichen Wertzeichen gesetzlich den Zentralbanken vorbehalten war, wurden die Aktionen verboten. Daraufhin verschlimmerte sich die wirtschaftliche Situation der Bevölkerung wieder beträchtlich. Zahlreiche Gemeinden in Österreich, Deutschland und der Schweiz – die Rede ist von über 200 – mussten die geplante Einführung von Freigeld abbrechen.
Am Ende des Ersten Weltkriegs sagte Gesell aufgrund seiner Konjunkturtheorie innerhalb von 25 Jahren einen noch furchtbareren Krieg voraus für den Fall, dass die Zinswirtschaft beibehalten wird. Nur 20 Jahre später begann der Zweite Weltkrieg.
Auch wichtige weitere Entwicklungen entsprachen Gesells Forderungen. Diese waren stabiler Geldwert, freie Wechselkurse, Lösung der Währungen von der Bindung des Geldes an Golddeckung sowie der Einführung einer internationalen Währung. – Internationale Währung sind die 1969 geschaffenen Sonderziehungsrechte (engl. Special Drawing Rights, SDR) des Internationalen Währungsfonds. 1973 wurde der Übergang zu freien Wechselkursen der großen Währungen eingeleitet. Seitdem können die Zentralbanken auch eine Geldpolitik zur Stabilisierung des Geldwerts verfolgen und sind darin recht erfolgreich. Schließlich wird die Aufhebung der Golddeckung mehr und mehr zur Wirklichkeit.
Was von Gesells Forderungen noch offen ist, ist die Einführung einer Umlaufsicherung auf den offiziellen Währungen und damit die Lösung des Zinsproblems. J. M. Keynes hat – in Kenntnis Gesellscher Gedankengänge – in den Verhandlungen zum Abschluss des Bretton-Woods-Abkommens (1944) eine umlaufgesicherte internationale Währung namens Bancor gefordert, ist aber erfolglos geblieben. Ebenso steht die Lösung der Bodenfrage noch aus.
Erich Mühsam würdigte in der von ihm herausgegeben Zeitschrift Fanal (7/April 1930; Auszug) den Begründer der Freiwirtschaftslehre mit folgendem Nachruf: „Silvio Gesell war ein sozialer Wegbahner von größtem geistigen Wuchs; der Spott der Börsenpraktiker und das Gelächter der Marxisten können seine Bedeutung als Vorkämpfer gerechter und freiheitlicher Gesellschaftsgattung nicht mindern. Die Zeit revolutionärer Verwirklichung wird dem Toten vieles abzubitten haben, was die Zeit dogmatischer Unbelehrbarkeit an dem Lebenden und damit zugleich an sich selbst gesündigt hat. Der Weg der Menschheit zur anständigen Gemeinschaft wird mit mancher Fuhre Erde aus dem Garten Silvio Gesells gestampft sein.“
Die Freiwirtschaftslehre wird heute von der universitären Wirtschaftswissenschaft und den Vertretern moderner Wirtschaftstheorien weitgehend ignoriert bzw. inhaltlich abgelehnt.
Vorwürfe bezüglich Antisemitismus und Rassismus
Unabhängig von seiner Bedeutung für die Lehre der Freiwirtschaft werden Gesell immer wieder Rassismus, Antisemitismus und Sozialdarwinismus vorgeworfen. Zur Begründung dieser Vorwürfe werden einzelne Stellen mit Redewendungen und Stereotypen in seinen Schriften herangezogen. So schrieb er beispielsweise von der „Hochzucht des Menschengeschlechts“, dem „Zuchtwahlrecht der Frauen“ oder hoffte auf eine „Erlösung von all dem Minderwertigen, mit dem die seit Jahrtausenden von Geld und Vorrecht geleitete Fehlzucht die Menschheit belastet hat“. [1] Obwohl er hier sozialdarwinistische Termini verwendete, ging es Gesell um die Menschheit als Ganze und nicht etwa um die Herrschaft eines Volkes oder einer Rasse auf Kosten von anderen.
In diesem Zusammenhang wird ihm auch die Verwendung antisemitischer Stereotype vorgeworfen („Das einzige Volk, das seit Jahrtausenden beharrlich Rassenpolitik treibt, die Juden, hat überhaupt kein eigenes Land, und kennt die Staatshoheit nicht“). Ob diese verstreut vorkommenden Stereotype der Beweis für eine grundsätzlich antisemitische Haltung Gesells sind, ist umstritten, denn es gibt in seinem Leben und Wirken keine Hinweise für einen „gelebten Antisemitismus“. Vielmehr sprach er von der Verfolgung der Juden als eine "Himmelschreiende Ungerechtigkeit." Auch vertrat er die Gleichheit aller Menschen und das Weltbürgertum bei ausdrücklicher Ablehnung des Nationalismus.
Die Unterstellung des Antisemitismus ist abgeleitet von Gottfried Feders nationalsozialistischem Propagandaruf Brechung der Zinsknechtschaft, der ideologisch gegen das Judentum gerichtet war. Diese Forderung erinnert an Gesells Forderung nach Zinsfreiheit des Geldwesens. Dagegen spricht, dass Feder sich in seinen Veröffentlichungen mehrfach ablehnend über Gesell geäußert hat. In Gesells Schriften kann auch kein Hinweis auf eine antijüdische Haltung gefunden werden. Diese hätte auch seiner weltbürgerlichen Gesinnung widersprochen. Vielmehr betont er an einer Stelle, dass die Lösung des Zinsproblems die Juden vom Vorwurf des Zinsnehmens von Nichtjuden befreien und der Gesellschaft „die Früchte jüdischen Scharfsinns" erst richtig zur Verfügung stellen würde. Gesell hatte auch zahlreiche jüdische Anhänger. So gehörten Berta Heim und Ernst Frankfurth zu seinen überzeugtesten jüdischen Mitstreitern.
Gesell hat den marktwirtschaftlichen Wettbewerb und eine daraus resultierende "wirtschaftliche Überlegenheit der Tüchtigsten" befürwortet. Durch die freiwirtschaftliche Geld- und Bodenreform sollten aber beide Produktionsfaktoren (Arbeit und Kapital) gleiche Ausgangsbedingungen erhalten und niemand sollte durch Vorrechte begünstigt sein.
Quellen
- ↑ Werner Onken, „Für eine andere Welt mit einem anderen Geld“, Beitrag zur Attac-Sommerakademie am 1. 8. 2004 in Dresden, Online einsehbar, S. 10
Schriften Gesells
- Literatur von und über Silvio Gesell im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Die Reformation des Münzwesens als Brücke zum sozialen Staat (1891)
- Nervus rerum (1891)
- Die Verstaatlichung des Geldes (1892)
- El Sistema Monetario Argentino - Sus Ventajas y su Perfeccionamento (1893)
- Die Anpassung des Geldes und seiner Verwaltung an die Bedürfnisse des modernen Verkehrs (1897)
- La Cuestion Monetaria Argentina (1898)
- Die argentinische Geldwirtschaft und ihre Lehren (1900)
- Das Monopol der schweizerischen Nationalbank (1901)
- Die Verwirklichung des Rechts auf den vollen Arbeitsertrag durch die Geld- und Bodenreform (1906)
- Die neue Lehre von Geld und Zins (1911)
- Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld (Hauptwerk, 1916)
- Gold oder Frieden? Vortrag, gehalten in Bern am 28. April 1916 (1916)
- Freiland, die eherne Forderung des Friedens - Vortrag, gehalten im Weltfriedensbund in Zürich am 5. Juli 1917 in Zürich (1917)
- Münchener Verteidigungsrede - veröffentlicht in: "Die Freiwirtschaft vor Gericht" von Richard Hofmann (1918) (siehe auch: Münchner Räterepublik)
- Der Abbau des Staates nach Einführung der Volksherrschaft. Denkschrift an die zu Weimar versammelten Nationalräte (1919 - 2. Auflage 1921)
- Die gesetzliche Sicherung der Kaufkraft des Geldes durch die absolute Währung. Denkschrift zu einer Eingabe an die Nationalversammlung (1919)
- Das Reichswährungsamt. Wirtschaftliche, politische und finanzielle Vorbereitung für seine Einrichtung (1920)
- Internationale Valuta-Assoziation (IVA). Voraussetzung des Weltfreihandels - der einzigen für das zerrissene Deutschland in Frage kommenden Wirtschaftspolitik (1920)
- An das deutsche Volk! Kundgebung des Freiwirtschaftlichen Kongresses zu Hannover (1921)
- Deutsche Vorschläge für die Neugründung des Völkerbundes und die Überprüfung des Versailler Vertrages. Öffentlicher Vortrag, gehalten in der Aula des Gymnasiums zu Barmen am 20. Dezember 1920 (1921)
- Die Wissenschaft und die Freiland-Freigeldlehre. Kritik und Erwiderung (ohne Verfasserangabe erschienen) (1921)
- Denkschrift für die Gewerkschaften zum Gebrauch bei ihren Aktionen in der Frage der Währung, der Valuta und der Reparationen (1922)
- Zweite Denkschrift für die deutschen Gewerkschaften zum Gebrauch bei ihren Aktionen gegen den Kapitalismus (die Ausbeutung, ihre Ursachen und ihre Bekämpfung). Eine Gegenüberstellung meiner Kapitaltheorie und derjenigen von Karl Marx. Vortrag, gehalten in der Sozialistischen Vereinigung zur gegenseitigen Weiterbildung in Dresden am 8. Mai 1922 (1922)
- Die Diktatur in Not. Sammelruf für die Staatsmänner Deutschlands (1922)
- Das Trugbild der Auslandsanleihe und ein neuer Vorschlag zum Reparationsproblem. Eine weltwirtschaftliche Betrachtung, eine Warnung vor Illusionen und ein positiver Lösungsvorschlag (1922)
- Der verblüffte Sozialdemokrat (Gesell-Acratillo 1922)
- Der Aufstieg des Abendlandes. Vorlesung, gehalten zu Pfingsten 1923 in Basel auf dem 1. Internationalen Freiland-Freigeldkongress (1923)
- Das Problem der Grundrente (Gesell-Sernocelli-Roth 1925)
- Die allgemeine Enteignung im Lichte physiokratischer Ziele (1926)
- Der abgebaute Staat
Literatur
- B. Uhlemayr: Silvio Gesell. Nürnberg 1931
- Werner Schmid: Silvio Gesell. Bern 1954
- Hans Blüher, Werner Schmid u.a.: Silvio Gesell - Zeitgenössische Stimmen zum Werk und Lebensbild eines Pioniers. Lauf bei Nürnberg 1960
- Werner Onken: Silvio Gesell und die Natürliche Wirtschaftsordnung. Eine Einführung in Leben und Werk. ISBN 3-87998-439-5
- Heinrich Färber: Die Irrlehre Silvio Gesells. Graz 1996 - ISBN 3-901805-03-6
- Hermann Benjes: Wer hat Angst vor Silvio Gesell? Das Ende der Zinswirtschaft bringt Arbeit, Wohlstand und Frieden für alle - ISBN 3-00-000204-9
- Silvio-Gesell-Ausstellung 1987, Saint-Vith. Katalog, Hann. Münden 1988
Siehe auch
- Freiwirtschaft
- Umlaufgesichertes Geld
- Zins
- Bodenreform
- Villa Gesell - eine nach Silvio Gesell benannte Stadt in Argentinien
- Humanwirtschaftspartei
Weblinks
- Silvio-Gesell.de, Website der Stiftung für Reform der Geld- und Bodenordnung
- Die Natürliche Wirtschaftsordnung
- Silvio Gesell: Die Natürliche Wirtschaftsordnung
- Jutta Ditfurth: Silvio Gesell, die Freiwirtschaftslehre und ihre AnhängerInnen
- Klaus Schmitt: Entspannen Sie sich, Frau Ditfurth!
- Silvio Gesell und Max Stirner Zu den Stirner-Debatten der Freiwirtschaftler
- Silvio Gesell im IDGR-Lexikon gegen Rechtsextremismus, Stellungnahme von Werner Onken zur Darstellung Gesells im IDGR.
- Werner Onken: Silvio Gesell und die Natürliche Wirtschaftsordnung
- Genealogie Silvio Gesell
- Silvio Gesell, Tauschtheoretiker, Kaufmann, Kredittheoretiker, Freigeldtheoretiker von Ernst Dorfner
- Hat Silvio Gesell dem Antisemitismus Vorschub geleistet? Proseminararbeit
Initiativen, die Gesells Ideen aufgreifen:
- Initiative Taxos
- Sozialwissenschaftliche Gesellschaft
- Stiftung für Reform der Geld- und Bodenordnung
- Seminar für freiheitliche Ordnung
- Initiative für Natürliche Wirtschaftsordnung (INWO) Deutschland e.V.
- Initiative für Natürliche Wirtschaftsordnung (INWO) Schweiz
- Geldreform.de
- Christen für Gerechte Wirtschaftsordnung e.V.
Personendaten | |
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NAME | Gesell, Jean Silvio |
KURZBESCHREIBUNG | Ökonom, Begründer der Freiwirtschaftslehre, Kaufmann, Autor |
GEBURTSDATUM | 17. März 1862 |
GEBURTSORT | Sankt Vith, Belgien |
STERBEDATUM | 11. März 1930 |
STERBEORT | Oranienburg, Brandenburg, Deutschland |