George Kennedy Allen Bell
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George Kennedy Allen Bell (* 4. Februar 1883 in Hayling Island, Hampshire; † 3. Oktober 1958 in Canterbury) war Bischof der Church of England (Anglikaner) und führender Vertreter der Ökumene. Er ist in Deutschland und Großbritannien als enger Freund Dietrich Bonhoeffers, als Gegner der britischen Luftkriegsstrategie im Zweiten Weltkrieg und für seine ökumenische Friedens- und Versöhnungsarbeit bekannt.
[Bearbeiten] Sozial engagierter Ökumeniker
Bell wurde als Sohn des Pfarrers von Hayling Island und späteren Domherrn von Norwich, Allen Bell, geboren. Er studierte Theologie in Oxford (England) und wurde 1907 zum anglikanischen Priester geweiht. Dann arbeitete er drei Jahre als Sozialpfarrer in den Slums der englischen Industriestadt Leeds. Seine Aufgabe war die christliche Mission unter den dortigen Industriearbeitern, von denen ein Drittel Inder und Afrikaner aus damaligen britischen Kolonien waren. Dabei lernte Bell viel von den Methodisten, deren Verbindung von persönlichem Glaubensbekenntnis und sozialem Engagement er als Vorbild für seine Kirche ansah.
Im Herbst 1910 ging Bell zunächst für knapp vier Jahre als Studentenpfarrer und akademischer Tutor am Christ Church College zurück nach Oxford. Auch hier war er sozial engagiert. Er gehörte zu den Gründern einer erfolgreichen Konsumgenossenschaft für Studenten und Universitätsangehörige und setzte sich für Siedlungsprojekte (settlements) und Arbeiterbildung durch die W.E.A. (Workers' Educational Association) ein.
1914 wurde er Privatsekretär des Erzbischofs von Canterbury und übernahm ein Sonderreferat für internationale und interkonfessionelle Beziehungen. In diesem Amt erreichte er 1915, dass lutherisch getaufte Inder die Arbeit der Leipziger und der Goßner-Mission in Chota Nagpur (Ostindien) fortsetzen durften, nachdem deren deutsche Missionare interniert worden waren. Bis zum Kriegsende engagierte er sich auch für den Johanniterorden, eine überkonfessionelle Aktion zur Rettung von Kriegswaisen und - zusammen mit dem schwedischen lutherischen Erzbischof Nathan Söderblom, einem seiner engsten lebenslangen Freunde - für den Austausch von Kriegsgefangenen. In dieser Arbeit sah er die innerevangelischen Gegensätze immer mehr als belanglos an.
Nach dem Krieg wurde Bell ein hervorragender Initiator und Förderer der noch jungen ökumenischen Bewegung. 1919 auf dem ersten Nachkriegstreffen des »Weltbunds für Freundschaftsarbeit der Kirchen« in den Niederlanden regte er erfolgreich an, eine Kommission für religiöse und nationale Minderheiten zu gründen. Auf der Weltkirchenkonferenz von Stockholm 1925 half er beim Zustandekommen des »Ökumenischen Rates für praktisches Christentum (Life and Work)«.
Von 1925 bis 1929 war Bell Dompropst (Dean) von Canterbury. In dieser Zeit rief er ein Kunstfestival ins Leben. Zu dessen Gastautoren gehörten damals u. a. John Mansfield, Gustav Holst, Dorothy L. Sayers und T. S. Eliot, dessen Drama „Mord im Dom“ (1935) Bell in Auftrag gab. Später erhielt er in Canterbury auch Besuch von Mahatma Gandhi.
1929 wurde Bell zum Bischof von Chichester ernannt. In diesem Amt organisierte er Patenschaften zwischen seinem Bistum und von der Weltwirtschaftskrise betroffenen Arbeitern. Er nahm dazu an Treffen der National Union of Public Employees (britische Gewerkschaft für Staatsangestellte) teil, wo er zu seiner Freude als „Bruder Bell“ angeredet wurde.
1932 wurde er für zwei Jahre zum Präsidenten von „Life and Work“ beim Ökumenischen Rat in Genf berufen. Bei dessen Berliner Tagung Anfang Februar 1933 wurde er Zeuge der sogenannten Machtergreifung des Nationalsozialismus.
[Bearbeiten] Verbündeter der Bekennenden Kirche
Nun nahm Bell regen Anteil am deutschen Kirchenkampf. Im April 1933 erklärte er öffentlich die Sorge der Ökumene über die beginnende Judenverfolgung in Deutschland und trug im September eine Resolution mit, die scharf gegen den Arierparagraphen und seine Übernahme durch Teile der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) protestierte. Im November lernte er Dietrich Bonhoeffer kennen, der für zwei Jahre Auslandspfarrer in London war. Von diesem erfuhr er von den Vorgängen in Deutschland und informierte die westliche Öffentlichkeit darüber, unter anderem durch Leserbriefe an die Londoner Times.
Am 1. Juni 1934 erschien die Barmer Theologische Erklärung als Gründungsmanifest der Bekennenden Kirche (BK), die die Unvereinbarkeit von christlichem Glauben und Nationalsozialismus proklamierte und die NS-nahen Deutschen Christen als „falsche Lehre“ (Häresie) verwarf. Am 6. Juni berichtete Bell darüber den versammelten Bischöfen der Church of England und erläuterte das für diese schwer nachvollziehbare Bekennen und Verwerfen, also den aktuellen Vollzug einer Scheidung zwischen rechtmäßiger und illegitimer Berufung auf Jesus Christus. Dies war die erste Reaktion in der Ökumene auf die Barmer Erklärung.
1934 sorgte Bell als Präsident von Life and Work dafür, dass Bonhoeffer neben Karl Koch, Präses der westfälischen Landeskirche, als Vertreter der BK zur ökumenischen Weltkonferenz im dänischen Fanö eingeladen wurde. Als gewählter Jugendsekretär war Bonhoeffer ohnehin für die angegliederte Weltjugendkonferenz zuständig. Bei einer Morgenandacht sprach er die Weltchristenheit als „Ökumenisches Konzil“ an und rief sie zum Aufstehen gegen den drohenden Krieg auf. Auf Anregung Bells verabschiedete die Weltkonferenz gegen den Protest der anwesenden Vertreter der DEK eine Solidaritätserklärung für die BK und ihren Kampf. Dabei wurden nochmals die Gewaltmaßnahmen der Nationalsozialisten publik gemacht, darunter die Konzentrationslager.
1936 übernahm Bell den Vorsitz des International Christian Committee for German Refugees (Internationales Christliches Komitee für deutsche Flüchtlinge). Darin setzte er sich besonders für Judenchristen ein, die damals weder von jüdischen noch christlichen Organisationen unterstützt wurden. Um ihnen zur Auswanderung zu verhelfen, entsandte er seine Schwägerin Laura Livingstone nach Berlin und Hamburg und ließ die Exilierten zeitweise in seinem Privathaus wohnen. Im selben Jahr druckte er in seinem Bistumsblatt ein Gebet für Juden und „nichtarische“ Christen ab:
- Bete für die Juden in Stepney, und Whitechapel, und Bethnal Green [wo Flüchtlinge untergebracht waren]; bete für die deutschen Juden; für alle jene, die Schmerzen leiden, die Schande leiden, wegen ihrer Rasse. Bete für jene, die einen jüdischen Elternteil oder Großelternteil haben, und nach ihrem Glauben Christen sind ...
1937 wurde er als Lordbischof Mitglied des Oberhauses. Er nutzte diesen Einfluss, um gezielt Verfolgte des NS-Regimes zu schützen. So konnte er z. B. dem bekanntesten Vertreter der Bekennenden Kirche Martin Niemöller das Leben retten, indem er dessen Inhaftierung im KZ Sachsenhausen ab Februar 1938 und später im KZ Dachau in der englischen Presse bekannt machte und als Beispiel für die kirchenfeindliche Haltung des Hitlerstaates brandmarkte. Daraufhin nahm Adolf Hitler 1938 Abstand von Niemöllers geplanter Ermordung.
Mit persönlichen Bürgschaften ermöglichte Bell im Winter 1938/39 90 Menschen, vor allem Pfarrersfamilien (u. a. auch Hans Ehrenberg, Christuskirche Bochum), die als „nichtarische“ Christen von den Nationalsozialisten verfolgt und von der offiziellen Kirche im Stich gelassen wurden, die Emigration nach England.
[Bearbeiten] Gegner der Flächenbombardement und Helfer des deutschen Widerstands
Bells Engagement während des Krieges galt zunächst Flüchtlingen, displaced persons und anderen Notleidenden, die vom Kontinent nach England flüchteten. Zugleich setzte er sich dort für internierte Deutsche und britische Kriegsdienstverweigerer ein.
Schon 1939 schrieb Bell, die Kirche dürfe nicht zum spirituellen Gehilfen eines Staates werden, sondern solle sich für friedliche internationale Beziehungen einsetzen und Stellung gegen Vertreibung, Versklavung und die Zerstörung der Moral beziehen. Sie dürfe nicht aufgeben, ständig wiederholte Vergeltungsschläge oder das Bombardieren der Zivilbevölkerung zu verurteilen. Er drängte die Kirchen dazu, eine gegenüber der Kriegführung ihrer eigenen Länder kritische Haltung einzunehmen.
1940 traf er sich mit einigen ökumenischen Freunden in den Niederlanden, um die Kirchen auf eine gemeinsame Initiative für den Frieden nach dem Sieg über das NS-Regime zu orientieren. 1941 schrieb Bell an die „Times“: Es ist barbarisch, unbewaffnete Frauen und Kinder zum Angriffsziel zu machen. Damit widersprach er Winston Churchill direkt, der in dieser Zeit ein Flächenbombardement (area bombing) deutscher Städte plante.
Am 1. Juni 1942 traf Bell im neutralen Schweden überraschend Dietrich Bonhoeffer, der ihm als Geheimkurier Informationen des deutschen Widerstands übergab. Darunter waren die Klarnamen der Beteiligten in der Wehrmacht und Abwehr an dem geplanten Hitlerattentat und Putsch zum Sturz des NS-Regimes. Um diesen Plan zum Erfolg führen und anschließend um Waffenstillstand verhandeln zu können, baten die Verschwörer die britische Regierung um ein öffentliches Signal, die Deutschen nicht mit den Nationalsozialisten gleichzusetzen.
Bell übergab diese Informationen dem britischen Außenminister Anthony Eden. In einem Begleitschreiben forderte er seinerseits die Regierung auf,
- nachdrücklich und öffentlich zu erklären, daß die britische Regierung und ihre Alliierten nicht den Wunsch haben, ein Deutschland zu versklaven, das Hitler, Himmler und ihre Mitschuldigen beseitigen will.
Doch nach monatelangem Schweigen erhielt er eine schroffe Abfuhr: Die Alliierten hatten auf der Casablanca-Konferenz beschlossen, den Krieg bis zur bedingungslosen Kapitulation Deutschlands zu führen, und das area bombing eingeleitet.
Als erste Attentate auf Hitler scheiterten und einige der Verschwörer bereits inhaftiert waren, versuchte Bell erneut eine Kursänderung der britischen Politik zu erwirken: vergeblich. Nach dem 20. Juli 1944 warf er Eden vor, er habe trotz Wissens um die Beteiligten nichts unternommen, um ihnen rechtzeitig zu helfen.
Am 14. Februar 1943 verurteilte Bell im Oberhaus das area bombing als Infragestellung aller humanen und demokratischen Werte, für die Großbritannien Krieg führe, und rief damit vehemente Proteste hervor. Am 9. Februar 1944 beschrieb er die Bombardierung deutscher Städte wie Hamburg und Berlin erneut als unverhältnismäßige und damit völkerrechtswidrige „Vernichtungspolitik“ und forderte das Parlament energisch auf:
- Ich verlange, dass die Regierung zur Rechenschaft gezogen wird wegen ihrer Politik der Bombardierung feindlicher Städte im gegenwärtigen Umfang, insbesondere hinsichtlich von Zivilisten, die Non-Kombattanten sind, sowie von nichtmilitärischen und nichtindustriellen Zielen. Ich bin mir bewusst, dass bei den Angriffen auf Zentren der Waffenindustrie und des Militärtransports der Tod von Zivilisten etwas Unvermeidliches ist, soweit er aus einer im guten Glauben durchgeführten Militäraktion rührt. Aber es muss eine Verhältnismäßigkeit zwischen den eingesetzten Mitteln und dem erreichten Zweck bestehen. Eine ganze Stadt auszulöschen, nur weil sich in einigen ihrer Bereiche militärische und industrielle Einrichtungen befinden, verneint die Verhältnismäßigkeit. Die Alliierten stehen für etwas Größeres als Macht. Die Hauptinschrift auf unserem Banner ist 'Recht'. Es ist von höchster Wichtigkeit, dass wir, die wir mit unseren Verbündeten die Befreier Europas sind, die Macht so nutzen, dass sie unter der Kontrolle des Rechtes steht. Es geht um die Bombardierung der Feindstädte, um diese Flächenbombardierung!
Die Rede wandte die Kriterien von Artikel 22 der Haager Landkriegsordnung auf die britische Luftkriegsstrategie an. Damit löste Bell heftige Tumulte im Oberhaus aus. Dort war der erklärte Gegner des Nationalsozialismus mit seiner Haltung völlig isoliert und auch im Unterhaus teilten damals nur zwei Labourabgeordnete seine Kritik am area bombing.
Auch in seiner Kirche war Bell deswegen stark umstritten. William Temple, der als damaliger Erzbischof von Canterbury das höchste, politisch einflussreiche Amt der Anglikanischen Kirche innehatte, weigerte sich, das Bombardieren feindlicher Innenstädte zu kritisieren. Dabei hatte er vor Kriegsbeginn genau diesen konkreten Punkt genannt, an dem die Kirche aufgrund ihrer Lehre vom Gerechten Krieg zum Widerspruch gegen die Politik genötigt sei und zur Kriegsdienstverweigerung aufrufen müsse. Seit dem Blitzkrieg aber rechtfertigte er den britischen Luftkrieg als schicksalhafte Notwendigkeit.
Bell dagegen wurde vorgeworfen, mit seinem Protest nur der NS-Propaganda zu helfen. Seine Opposition gegen die britische Kriegführung kostete ihn seine weitere Karriere: Obwohl er als geeigneter Kandidat für das höchste Amt seiner Kirche galt, wurde er wahrscheinlich auf Betreiben Churchills bei der Nachfolgeregelung zweimal übergangen und blieb bis zu seinem Rücktritt aus Altersgründen Anfang 1958 Bischof von Chichester.
Bonhoeffers letztes Wort unmittelbar vor dem Abtransport zu seiner Hinrichtung am 9. April 1945 galt seinem engsten Freund Bell: Dies ist das Ende; für mich beginnt ein neues Leben. Dieser hielt am 27. Juli 1945 in der Londoner Holy Trinity Church einen Gedenkgottesdienst für Bonhoeffer vor Tausenden Zuhörern, darunter Bonhoeffers Zwillingsschwester. Die BBC übertrug die Feier nach Deutschland, so dass viele seiner Verwandten, Freunde und Schüler die erste gewisse Nachricht von Bonhoeffers Tod erhielten.
[Bearbeiten] Fürsprecher der besiegten Deutschen, Visionär eines versöhnten Europas
Bereits im Juli 1945 sprach sich Bell für eine politische Selbstbestimmung der Deutschen aus, da es in Deutschland eine von der christlichen Minderheit getragene Widerstandsbewegung gegeben habe. Auf dieser Basis hielt er eine gründliche Abkehr der Deutschen vom Nationalsozialismus und Versöhnung mit ihnen für möglich.
Am 18. und 19. Oktober 1945 nahm Bell als Mitglied einer ökumenischen Delegation an der ersten Sitzung des neu gebildeten Rates der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in Stuttgart teil. Der Rat übergab der Abordnung die „Schulderklärung der evangelischen Christenheit Deutschlands“.
In seiner Antwort darauf erinnerte Bell auch an den Holocaust, der in der Schulderklärung nicht genannt worden war. Danach hielt er mit Otto Dibelius, dem russisch-orthodoxen Erzbischof Alexander und anderen hochrangigen Kirchenvertretern in der Berliner Marienkirche den ersten ökumenischen Gottesdienst nach dem Krieg in Deutschland. Dabei rief er „die ganzen Kirchen der Welt“ zur Versammlung des Ökumenischen Rates auf, der 1948 in Amsterdam neu gegründet wurde. Dort erhielt Bell den Ehrenvorsitz.
Bell war kein Pazifist, aber entschiedener Antifaschist. 1946 beantwortete er die Stuttgarter Schulderklärung mit einem Rückblick auf das Versagen Großbritanniens im Münchner Abkommen von 1938 (Bertold Klappert: Schritte zum Frieden, S. 89):
- Wir hier in England haben in geradezu verbrecherisch leichtfertiger Weise unsere Verpflichtung verkannt, Friede und Ordnung zu verteidigen; und wenn die Deutschen sich beim Aufstieg Hitlers verhängnisvoll passiv verhalten haben, so war auch unsere und anderer Völker Passivität kaum weniger tadelnswert. Auch wir und unsere Kirchen haben zugeschaut, wie das nationalsozialistische System allmählich überhand gewann über das Leben in Deutschland, und wir waren zu bekümmert oder zu faul, die nötigen militärischen Maßnahmen zur Sicherung der Freiheit Europas zu treffen.
Im selben Jahr hielt Bell eine vielbeachtete leidenschaftliche Rede in Basel über Europa, Deutschland und die Kirchen. Darin hieß es (ebd.):
- Die Einheit Europas ist das eigentliche Anliegen. [...] Und wir müssen auf Europas Einheit nicht primär vom politischen, sondern zuerst vom kulturellen und dann vom wirtschaftlichen Standpunkt aus blicken. [...] Die christliche Kirche, sei sie protestantisch, katholisch oder orthodox, hat heute überall eine schwere Aufgabe, vor allem in Europa. In Deutschland brachten beide, die protestantische und die katholische Kirche es nicht fertig, dem Volk jene starke moralische Grundhaltung zu geben, die es befähigt hätte, ein solches Regime wie das Hitler-Regime unmöglich zu machen. Vor allem die protestantische Kirche hat zu wenig Interesse für soziale Fragen, Arbeit, Wohnfragen und Frieden gezeigt und war dem Staat gegenüber zu unterwürfig, und die Deutschen sind - allgemein gesprochen - so gelehrig, so undemokratisch vom Temperament her, dass die Verantwortung der Kirche um so größer ist, wenn sie dem Volk das Evangelium verkündet und die Herrschaft Gottes über den Staat und über das Ganze des menschlichen Lebens betont.
Er sah die zukünftige Aufgabe der Kirchen also darin, diese moralische Grundhaltung, das demokratische und soziale Bewusstsein als einigendes Band Europas wachzuhalten und zu fördern. Basis dazu war für ihn der Glaube an die „Herrschaft Gottes“ auch über den Staat, wie sie die Barmer Theologische Erklärung 1934 formuliert hatte. Nach dieser Rede sagte er in einem Interview (ebd.):
- Die Frage ist, wie man das Diabolische entmutigen und auslöschen und das Gesunde und Gute ermutigen kann. Es kann nicht dabei bleiben, dass man die Deutschen allein lässt in ihrer gegenwärtigen Katastrophe. Das wird die Verzweiflung nur vertiefen. Es kann auch nicht bei einer simplen Verdammung der Vergangenheit und der Philosophie der Vergangenheit bleiben. Sondern man muss ihnen ein aktives Vorbild einer besseren Philosophie geben.
[Bearbeiten] Scharfer Kritiker der Vertreibungen
Demgemäß war Bell auch einer der ersten britischen Bischöfe, der dem Unrecht widersprach, das viele besiegte Deutsche bei ihrer Vertreibung aus den damaligen deutschen Ostgebieten erfuhren. Er ergriff gegen ihre unmenschliche Behandlung das Wort und protestierte wiederholt und deutlich dagegen, rund 14 Millionen deutsche Schlesier, Pommern, Ostpreußen und Sudetendeutsche aus ihrer Heimat zu vertreiben. Um den 15. August 1945 schrieb er im Spectator dagegen einen Leserbrief, am 12. September 1945 unterschrieb er mit dem britisch-jüdischen Verleger Victor Gollancz, Lord Bertrand Russell und anderen einen Aufruf gegen diese Vertreibungen, den mehrere Londoner Tageszeitungen veröffentlichten.
Kurz zuvor, am 8. September, hatte er dem Berliner Propst Heinrich Grüber, dem Leiter des Fluchthilfebüros der Bekennenden Kirche für Juden, geschrieben:
- Ich darf Ihnen sagen, dass die Erzbischöfe von Canterbury und York ihrerseits tiefstens berührt sind und zusammen mit den Leitern der evangelischen Freikirche und dem katholischen Erzbischof von Westminster eine gemeinsame Demarsche unternehmen wollen ... Ich fühle die Unmenschlichkeit der Vertreibung aufs Tiefste mit Ihnen und habe über diesen Punkt bereits im Oberhaus gesprochen, indem ich ausführte, dass die Entwurzelung von Millionen aus rassischen Gründen unvereinbar sei mit den Idealen, für die die Vereinten Nationen gekämpft haben.
Am 30. Januar 1946 verurteilte er erneut im britischen Oberhaus die Vertreibung der Deutschen:
- Um etwas mit den derzeitigen Bevölkerungstransfers vergleichbares zu finden, muss man in die asiatische Urgeschichte zurückgehen ... Es ist außerordentlich schwierig, sie grundsätzlich von den Massendeportationen von Zivilbevölkerungen zu unterscheiden, für welche die NS-Führer jetzt als Kriegsverbrecher in Nürnberg vor Gericht stehen.
Dann wies er auf die Mitverantwortung der Alliierten für die besonders grausame Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei hin, warnte vor der Präzedenzwirkung für andere Staaten und nannte Beispiele, dass der „Transfer“ keineswegs, wie auf der Potsdamer Konferenz beschlossen, „ordnungsgemäß und human“ erfolge.
[Bearbeiten] Gegner der Atomrüstung und des Kalten Krieges
In den 1950er Jahren engagierte sich Bell gegen die atomare Aufrüstung und stellte sich wie viele damalige christliche Initiativen gegen den Kalten Krieg. In seinem letzten Lebensjahr lernte er durch seine ökumenischen Kontakte noch Giovanni Montini in Mailand kennen, der als Papst Paul VI. 1963 das II. Vatikanische Konzil zum Abschluss brachte.
[Bearbeiten] Die Erinnerung an George Bell
George Bell ist - anders als sein Freund Dietrich Bonhoeffer in Großbritannien - heute in Deutschland nur noch wenig bekannt. Die Erinnerung an ihn wird fast nur unter Ökumenikern, akademischen Theologen oder pazifistischen Kirchengruppen gepflegt.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit genoss er vor allem in der Ökumene jedoch wegen seiner Haltung als frühzeitiger Warner vor der NS-Innenpolitik, seiner Unterstützung des deutschen Widerstands gegen Hitler, seiner Kritik am britischen Bombenkrieg und an den Vertreibungen, für die Versöhnungsarbeit und eine demokratische Nachkriegsordnung hohes Ansehen. Er verkörperte das seltene Beispiel eines hohen Kirchenführers, der christlichen Glauben, persönliches Engagement und politische Einflussnahme auch im Krieg glaubwürdig vereinte und diese Haltung auch dann durchhielt, als ihm daraus persönliche Nachteile erwuchsen.
Manche Beobachter nehmen an, dass Bell nicht etwa trotz, sondern gerade wegen dieser unbeugsamen Wahrheitsliebe und seines Gerechtigkeitssinnes in Deutschland in Vergessenheit geraten ist. Denn er begründete seine Versöhnungsbereitschaft mit den Deutschen mit der Minderheit christlicher und demokratisch gesinnter Widerstandskämpfer und stellte sich damit gegen Versuche einer restaurativen Erneuerung jener autoritären Obrigkeitshörigkeit, die sich gerade im deutschen Protestantismus mit dem Nationalsozialismus arrangiert und zum Versagen der Kirche gegenüber den NS-Verbrechen beigetragen hatte. Bells und Bonhoeffers konspirative Unterstützung des Attentats vom 20. Juli 1944 waren der großen Mehrheit in der EKD äußerst unangenehm und suspekt, ebenso seine Vorstellungen einer ökumenisch solidarischen und national eigenständigen, ganz den Armen und Verfolgten verpflichteten Kirche als Keimzelle einer erneuerten gesamteuropäischen humanen Werteordnung.
Seine Kritik an den Vertreibungen wie auch seine Opposition zur Atombewaffnung der NATO-Staaten machten ihn nach 1945 wiederum zum Außenseiter in Großbritannien. Nach seinem Tod wurde er ab etwa 1965 auch von der deutschen Linken abgelehnt, nicht zuletzt wegen seiner Kritik der Vertreibung. Für die Studentenbewegung der 68er spielte der 1958 verstorbene Bell bereits keine Rolle mehr, weil sie ihn nicht mehr wahrnahm.
[Bearbeiten] Literatur
[Bearbeiten] Werke
- A Brief Sketch of the Church of England. Student Christian Movement, London 1929, 1930 (deutsch in: Ekklesia. Sammlung von Selbstdarstellungen der christlichen Kirchen. Hrsg. Friedrich Siegmund-Schultze, Klotz, Gotha 1934
- Randall Davidson, Archbishop of Canterbury. Biografie, 2 Bände, Oxford University Press, Humphrey Milford, London 1935
- Christianity and World Order. Harmondsworth, Penguin Books, London 1940
- George Bell, Hans Kramm, John 0. Cobham (Hrsg): The Significance of the Barmen Declaration for the Oecumenical Church. Society for Promoting Christian Knowledge, London 1943 (Vorwort)
- The Background of the Hitler Plot. in: The Contemporary Review. 10. Isbister, London 1945, ISSN 0010-7565
- The Church and Humanity. Longmans-Green, London 1946 (Anthologie, darin: The Church's Function in Wartime. November 1939).
- The Task of the Churches in Germany. S.P.C.K., The Sword of the Spirit, London 1947
- Christian Unity. The Anglican Position. Hodder and Stoughton, London 1948
- Kirche in der Welt. Reden und Aufsätze des Bischofs von Chichester Dr. George Bell. Übersetzt von Rudolf Weckerling, Wichern-Verlag, Berlin 1948 (darin u.a. deutsche Übersetzungen der Rede Bells im House of Lords am 9. Februar 1944 und des Artikels The Background of the Hitler Plot von 1945)
- The Kingship of Christ. The Story of the World Council of Churches. The Pinguin books, Harmondsworth 1954, Reprint Greenwood Press, Westport 1979, ISBN 0313211213
- Die Königsherrschaft Jesu Christi. Die Geschichte des Ökumenischen Rates der Kirchen. Übersetzt von Rudolf Dohrmann. Mit einem Nachtrag über die Entwicklung des Ökumenischen Rates der Kirchen von 1954 bis 1957 von Francis House. Reich, Hamburg-Bergstedt 1960 (deutsche Ausgabe von "The Kingship...")
- Die Kirche u. die Widerstandsbewegung. Politisch-historische Vorlesungsreihe der Universität Göttingen. in: Evangelische Theologie Chr. Kaiser, Gütersloh 1957 Nr. 7, ISSN 0014-3502
- George Bell, Alphons Koechlin, Andreas Lindt: Briefwechsel. EVZ, Zürich 1969
- George Bell, Gerhard Leibholz, Eberhard Bethge, Ronald C. D Jasper: An der Schwelle zum gespaltenen Europa. Briefwechsel 1939-1951, Kreuz-Verlag, Stuttgart 1982, ISBN 3783104483
[Bearbeiten] Sekundärliteratur
- Ronald C. D. Jasper: George Bell, Bishop of Chichester. Oxford University Press, Oxford 1967. ISBN 0192131095
- Kenneth Slack: George Bell. SCMP Book Club 204, London 1971. ISBN 0334000939
- Paul Foster (Hrsg.): Bell of Chichester - A Prophetic Bishop. Otter Memorial Paper 17. University College, Chichester 2004. ISBN 0948765844
- Annegret Winkler-Nehls, Andreas Nehls: They find themselves between the upper and the nether millstones. Bischof Bells Nachlass zum Problem nichtarischer Flüchtlinge 1933-1939. Eine Dokumentation. Beiträge zur Diakoniewissenschaft 152. Diakoniewissenschaftliches Institut, Heidelberg 1991. in: DWI-Info 26.1992 ISSN 0949-1694
- Stephen A. Garrett: Ethics and Airpower in World War II. The British Bombing of German Cities. Palgrave Macmillan, New York 1993. ISBN 0312086830
- Edwin Robertson: Unshakeable Friend. George Bell and the German Churches. CCBI Publications, London 1995. ISBN 0851692346
- Andrew Chandler (Hrsg.): Brethren in Adversity. Bishop George Bell, the Church of England and the Crisis of German Protestantism. The Boydell Press, Woodbridge 2005. ISBN 0851156924
- Eberhard Bethge: Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie. Christian Kaiser Verlag, München 1978. ISBN 3459011823
- Eberhard Bethge: Der Weg Bonhoeffers vom Pazifismus in den Widerstand. In: Bertold Klappert, Ulrich Weidner: Schritte zum Frieden. Aussaat Verlag, Neukirchen Vlyn 1983. ISBN 3761546629
- Franz Hildebrandt (Hrsg.): 'And other Pastors of thy Flock', a German tribute to the Bishop of Chichester. Cambridge University Press, Cambridge 1942
- Holger Roggelin: Franz Hildebrandt. Ein lutherischer Dissenter im Kirchenkampf und Exil. Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte. Vandenhoeck& Ruprecht, Göttingen 1999. ISBN 3525557310 (über einen von George Bell geretteten Judenchristen)
- Klemens von Klemperer: Die verlassenen Verschwörer. Übersetzt von Klaus Kochmann. Siedler, Berlin 1994. ISBN 3886801527 (über die vergeblichen Kontaktversuche des Kreisauer Kreises mit den Alliierten)
[Bearbeiten] Weblinks
- Literatur von und über George Kennedy Allen Bell im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Eintrag (mit Literaturangaben) im Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon (BBKL)
- Portrait von George Bell mit vier Fotografien
- paxchristi.de (Pax Christi über George Bell)
- Spartacus schoolnet über George Bell
- Kurzbiografie mit Informationen über die Diözese Oxford
Vorgänger Winfrid Oldfield Burrows |
Bischof von Chichester 1929 - 1958 |
Nachfolger Roger Plumpton Wilson |
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Personendaten | |
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NAME | Bell, George Kennedy Allen |
ALTERNATIVNAMEN | George Cicestr |
KURZBESCHREIBUNG | anglikanischer Bischof |
GEBURTSDATUM | 4. Februar 1883 |
GEBURTSORT | Hayling Island, Hampshire, Großbritannien |
STERBEDATUM | 3. Oktober 1958 |
STERBEORT | Canterbury |