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Jean Baudrillard - Wikipedia

Jean Baudrillard

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Jean Baudrillard, 11. Juni 2004, Vorlesung an der European Graduate School
Jean Baudrillard, 11. Juni 2004, Vorlesung an der European Graduate School

Jean Baudrillard (* 20. Juli 1929 in Reims; † 6. März 2007 in Paris) war ein französischer Medientheoretiker, Philosoph und Soziologe. Er gilt als einflussreicher, aber auch umstrittener Vertreter des postmodernen Denkens.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Leben

Baudrillard studierte zunächst Germanistik an der Sorbonne in Paris. Von 1958 bis 1966 war er Deutschlehrer an einer französischen Oberschule. Zugleich betätigte sich Baudrillard als Literaturkritiker und Übersetzer (Friedrich Hölderlin, Bertolt Brecht, Peter Weiss) und studierte Philosophie und Soziologie an der Universität Paris-Nanterre. 1968 promovierte er dort mit der Arbeit Le Système des Objets („Das System der Dinge“), die von Henri Lefebvre betreut wurde. Im gleichen Jahr übernahm er einen Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Paris-Nanterre. Von 1966 bis 1970 unterrichtete Baudrillard als Maître Assistant und von 1970 bis 1972 als Maître de Conférences en Sociologie in Paris und erlebte dabei in Nanterre den Mai 68.

1976 erschien sein Hauptwerk Der symbolische Tausch und der Tod, das sich unter anderem auf Gedanken von Georges Bataille bezog und selbst bald ein zentrales philosophisches Werk der Postmoderne darstellte. 1987 habilitierte er mit L'Autre par lui-même („Das Andere selbst“), das sein bisheriges Denken noch einmal prägnant zusammenfasste. Von 1986 bis 1990 war er Directeur Scientifique (Wissenschaftlicher Direktor) am IRIS (Institut de Recherche et d'Information Socio-Économique) an der Université de Paris-IX Dauphine. 1995 erhielt er (zusammen mit Peter Greenaway) den Siemens-Medien-Preis. Baudrillard war bis zu seinem Tod Professor für Medien und Kultur an der European Graduate School in Saas-Fee in der Schweiz, wo er alljährlich einen Sommerkurs abhielt.

Neben seiner Arbeit auf dem Gebiet der Philosophie widmete er sich auch der Fotografie. Jean Baudrillard starb am 6. März 2007 nach langjähriger Krankheit in Paris.

[Bearbeiten] Denken

Als Kritiker und Theoretiker der Postmoderne schrieb Jean Baudrillard über zahlreiche Themen wie Virtualität, Simulation, Cyberspace, Hyperrealität, Fundamentalismus, Terrorismus, Globalisierung und das Ende der Geschichte.

In seinen frühen Schriften der 60er und 70er Jahre untersucht er die symbolische Funktion von Gebrauchsgegenständen, die „reine Zeichen“ seien. Ein englischer Ledersessel, ein Ascher aus Jade, ein orientalischer Gebetsteppich existieren nicht als Gegenstände des Gebrauchs, sondern sie werden zuvörderst, in ihrer ideellen Dimension als Zeichen konsumiert. Konsumiert wird die Vorstellung von britischer Behaglichkeit, von Reisesouvenirs aus dem Morgenland, nicht das jeweilige Objekt. Der Konsum, so schloss Baudrillard damals, ist eine absolut idealistische Praxis.[1]

In Requiem für die Medien (1972) entwirft Baudrillard eine Art „Anti-Medientheorie“. Seine „Simulationstheorie“ diagnostiziert, dass heute die Bilder der Wirklichkeit, die vor allem über die Massenmedien vermittelt werden, wichtiger und wirklichkeitsmächtiger geworden sind als die Wirklichkeit selbst. Die durch die Medien simulierte Welt ist zur Scheinwelt, zum Simulakrum geworden, die in Form einer Hyperrealität die wirkliche Welt zunehmend verdrängt. Anknüpfend an Marshall McLuhans Schlagwort „The medium is the message“ („Das Medium ist die Botschaft“) betont Baudrillard gegen Hans Magnus Enzensberger und dessen Aufsatz Baukasten zu einer Theorie der Medien (1970) gerichtet, dass es unmöglich sei, Medien kritisch zu verwenden. Bereits ihre technische Struktur als starrer Sender ohne Kommunikationsmöglichkeit nach beiden Seiten mache sie unweigerlich zu Instrumenten der Macht. Baudrillard spricht in diesem Zusammenhang von einer medialen „Rede ohne Antwort“, durch welche die eigene Tätigkeit der Konsumenten verhindert werde.

Bekannt wurde Baudrillard vor allem durch sein Hauptwerk Der symbolische Tausch und der Tod (1976), in dem er die Veränderungen des Symbolsystems der modernen Gesellschaft untersucht. Baudrillards Denken ist formal bestimmt vom strukturalistischen Zeichensystem (Signifikat und Signifikant), jedoch betont er, dass die Zeichen sich heute von ihrem Bezeichneten gelöst haben und „referenzlos“ geworden seien. Die Zeichencodes der modernen Städte, der Werbung und der Medien, geben nur noch vor, entschlüsselbare Botschaften zu sei. In Wahrheit dagegen seien sie reiner Selbstzweck, mit dem das Gesamtsystem der Gesellschaft aufrechterhalten wird, damit „jeder an seinem Platz bleibt“.

Seit den 70ern wandte er, während er seine Theorie der Simulation immer weiter ausbaute und mit anderen Themen ergänzte, unter anderem dem Phänomen des Terrorismus zu, den er ebenfalls vor dem Hintergrund einer zur Scheinwelt gewordenen Wirklichkeit analysierte. Der terroristische Akt sei eine „reines Ereignis“, das die Simulation durchbricht, indem es dem System die „Gabe des Todes“ zurückgebe – den Selbstmord der Terroristen (in Stammheim 1977 oder bei den Anschlägen vom 11. September 2001). Das System, das den Tod aus seiner Wirklichkeit verdrängt hat, muss diese Gabe beantworten (vgl. Potlatch), wodurch es sich selbst zerstören muss: „Das System muss sich gegen die Bedrohung wehren. Aber da die Bedrohung nicht von außen kommt wie im klassischen Krieg, sondern dezentral ist und sich jedem Zugriff entzieht, bleiben letztlich alle Versuche, die Terroristen zu besiegen, zwecklos. Im Gegenteil, die sinnlose Verausgabung aller verfügbaren militärischen Mittel führt letztlich zum ‚Realitätsexzess‘, zur Überhitzung der Macht bis hin zu ihrer Selbstzerstörung.“[2]

[Bearbeiten] Kritik von Naturwissenschaftlern

Sein oftmals assoziativer und unsauberer Stil brachte Baudrillard den Vorwurf mangelnder Wissenschaftlichkeit ein. So verwendete er oftmals mathematisch-physikalische Begriffe wie Raum-Zeit, Paralleluniversum, Möbiusband etc. in einer Weise, die dem strengen Mathematiker oder Physiker sinnlos erscheint, wie Alan Sokal im Detail auseinandergesetzt hat. Dabei prallt die Welt der Naturwissenschaftler mit ihren festen Begriffen und klaren Definitionen auf die der Philosophie, die sich mit den Begriffen selber und ihren Bedeutungen, mit Ähnlichkeiten und Analogien auseinandersetzt. Baudrillards Verwendung bestehender Begriffe – die er seinem Denken gemäß als reine Zeichen versteht – spielt mit den ästhetischen, kulturellen und subjektiven Konnotationen der Begriffe, also mit dem, was bei einem Begriff „mitschwingt“. So wurde Baudrillards Stil auch oft mit Science Fiction verglichen.

[Bearbeiten] Werke

  • Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen (1968), Frankfurt/New York: Campus 2001 (2. Auflage)
  • La société de consommation, Paris: Denoël 1970
  • Pour une critique de l’économie du signe, Paris: Gallimard 1972
  • Requiem für die Medien (1972), Auszug aus: Pour une critique de l’économie du signe, dt. in: Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, Berlin: Merve 1978
  • Le miroir de la production, Paris: Casterman 1973
  • Der symbolische Tausch und der Tod (1976), München: Matthes & Seitz 1982
  • Oublier Foucault (1977), München: Raben 1983 (2. Auflage)
  • KOOL KILLER oder Der Aufstand der Zeichen, Berlin: Merve 1978
  • Agonie des Realen, Berlin: Merve 1978
  • Simulacres et Simulation, Paris: Editions Galilée 1981, engl.: Simulacra & Simulation, Michigan: University of Michigan Press 1994
  • Der Tod der Moderne, 1983
  • Laßt euch nicht verführen, Berlin: Merve 1983
  • Die fatalen Strategien, München: Matthes & Seitz 1985
  • Die göttliche Linke, München: Matthes & Seitz 1986
  • Das Andere selbst. Habilitation (1987), Wien: Passagen 1994, ISBN 978-3-85165-120-1
  • Amerika, 1987
  • Paradoxe Kommunikation, 1989
  • Videowelt und fraktales Subjekt, in: Ars Electronica (Hg.), Philosophien der neuen Technologie, Berlin: Merve 1989
  • Cool memories I, 1989
  • Das Jahr 2000 findet nicht statt, Berlin: Merve 1990
  • Transparenz des Bösen, Berlin: Merve 1992
  • Von der Verführung, München: Matthes & Seitz 1992
  • Die Freiheit als Opfer der Information oder Das Temesvar-Syndrom, 1992
  • Die Illusion des Endes oder der Streik der Ereignisse, Berlin: Merve 1994
  • Der reine Terrorismus, Wien: Passagen 1993
  • Von der absoluten Ware (Absolute Merchandise), 1995
  • Das perfekte Verbrechen, München: Matthes & Seitz 1996
  • Die Illusion des Endes – Das Ende der Illusion, Audio-CD (zusammen mit Boris Groys), Köln: supposé 1997, ISBN 3-932513-01-0
  • Der unmögliche Tausch, Berlin: Merve 2000
  • Paroxysmus, Wien: Passagen Verlag 2002, ISBN 978-3-85165-521-6
  • Der Geist des Terrorismus, Wien: Passagen 2003, ISBN 978-3-85165-546-9
  • Einzigartige Objekte, Wien: Passagen 2004 (zusammen mit Jean Nouvel), ISBN 978-3-85165-589-6
  • Die Intelligenz des Bösen, Wien: Passagen 2006, ISBN 978-3-85165-745-6
  • Die Macht der Verführung. Audio-CD (Originalaufnahme in deutscher Sprache), Köln: supposé 2006, ISBN 978-3-932513-67-1
  • Gesprächsflüchtlinge, Wien: Passagen 2007, ISBN 978-3-85165-780-7

[Bearbeiten] Literatur

  • Falko Blask: Baudrillard zur Einführung. Junius, Hamburg 1995, ISBN 3885069172
  • Rene Derveaux Jean Baudrillard: Wahrheit, Realität, Simulation, Hyperrealität in: Melancholie im Kontext der Postmoderne, WVB Berlin 2002, ISBN: 978-3932089985
  • Wilhelm Hofmann: Jean Baudrillard. In: Gisela Riescher (Hrsg.): Politische Theorie der Gegenwart in Einzeldarstellungen von Adorno bis Young. Kröner, Suttgart 2004, S. 32-35, ISBN 3-520-34301-0
  • Stephan Moebius, Lothar Peter: Französische Soziologie der Gegenwart, UTB 2004
  • Ralf Bohn, Dieter Fuder (Hrsg.): Baudrillard – Simulation und Verführung, Wilhelm Fink, München 1994
  • Jochen Venus: Referenzlose Simulation? Argumentationsstrukturen postmoderner Medientheorie am Beispiel von Jean Baudrillard, Königshausen & Neumann, Würzburg 1997
  • Peter Gente, Barbara Könches, Peter Weibel (Hrsg.): Philosophie und Kunst – Jean Baudrillard. Merve Verlag, Berlin 2005
  • Georg Kneer: Jean Baudrillard. In: Dirk Kaesler (Hrsg.): Aktuelle Theorien der Soziologie. Von Shmuel N. Eisenstadt bis zur Postmoderne. München: C.H.Beck 2005, S. 147–167, ISBN 3-406-52822-8
  • Michael Schetsche, Christian Vähling: Jean Baudrillard. In: Stephan Moebius, Dirk Quadflieg (Hrsg.): Kultur. Theorien der Gegenwart. VS – Verlag für Sozialwissenschaften, S. 750, 2006, ISBN 3-531-14519-3.

[Bearbeiten] Weblinks

[Bearbeiten] Einzelnachweise

  1. NZZ: Der Schein der Wirklichkeit und das Dickicht der Zeichen 7. März 2007
  2. Samuel Strehle: Jenseits des Realitätsprinzips. Zum Tod des Philosophen Jean Baudrillard [1].

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